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Kolonien der Liebe

Kolonien der Liebe

Titel: Kolonien der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Heidenreich
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ein Tagebuch, nur für ihn, sie paukte Englisch, um mit ihm reden zu können, wenn sie ihn in Amerika treffen würde, denn natürlich sparte sie jeden Pfennig für eine Reise, um ihn zu suchen und zu besuchen. Ich hatte das Gefühl, sie war fest entschlossen, ihn irgendwie heimzuholen in die Familie, in die er gehörte.
    Am 30. September 1955 um siebzehn Uhr fünfundvierzig verunglückte James Dean tödlich in seinem Porsche. Damals gab es kein Fernsehen für schnelle Meldungen, zumindest hatte niemand in unserer Bekanntschaft einen Fernsehapparat. Radio hörten wir Kinder nur Mittwoch abends, wenn Chris Howland Harry-Belafonte-Platten spielte, und Zeitung lasen wir auch nicht.
    Ein, zwei Tage später muß es gewesen sein, daß mir in der Eisdiele plötzlich jemand sagte: «Hast du schon gehört, James Dean ist tot.» Ich werde nie vergessen, wie dieser Satz auf mich wirkte, ich glaube, daß ich nie in meinem Leben entsetzter, versteinerter, verzweifelter war als in diesem Augenblick - nicht, als mein Vater starb, nicht, als Jahre später am Heiligabend unser Haus abbrannte, weil meine Mutter gegen den Weihnachtsbaum getreten und ihn umgeworfen hatte, nicht, als ich meine Sachen packte und für immer ging - nie wieder war ich von einer so bodenlosen Traurigkeit. «James Dean ist tot.» Ich glaubte es auch sofort, zweifelte nicht daran, fühlte geradezu, daß er weg war, für immer, es wunderte mich nicht bei einem wie ihm. Immer habe ich die Tatsache, daß ich inzwischen über vierzig Jahre alt geworden bin, als persönliches Versagen empfunden. Als ich wieder einen anderen Gedanken als «aus weg vorbei nie wieder» denken konnte, dachte ich: Irma. Es war spät am Abend, weder sie noch ich hatten Telefon, ich mußte bis zum nächsten Morgen warten. In dieser Nacht schlief ich nicht, ich saß auf einem Stuhl am Fenster und sah den Betrunkenen zu, die aus der Kneipe gegenüber torkelten. Ich hätte mich auch gern betrunken, um in so einen Zustand weicher Fallmüdigkeit zu gelangen, um zu lallen, zu fallen, nichts mehr zu fühlen und zu wissen. Ich schlich mich an den Wohnzimmerschrank mit der beleuchteten Bar und holte mir die Flasche Sherry. Es schmeckte mir nicht, aber es tat gut, wärmte, machte ein Wattegefühl im Kopf und eine pelzige schwere Zunge, und ich weiß nur noch, wie mich meine Mutter am Morgen fand, ich höre noch ihr Gezeter, fühle, wie sie mich hochreißt und ins Bett schiebt, dann muß ich lange tief geschlafen haben. Als ich wieder zu mir kam, war später Nachmittag und niemand zu Hause.
    Ich stand auf und wackelte ein wenig, ich fror, mir war schlecht, und ich wollte unbedingt ins Freie. Ich zog mich an, als wäre tiefster Winter, dabei schien die Herbstsonne, und das Laub fiel langsam von den Bäumen. Ich trat ein paar Kastanien vor mir her und dachte immer nur: «Was soll ich denn jetzt machen?» Das Leben konnte doch nicht einfach so weitergehen wie vorher? Der pickelige Holger aus der Parallelklasse kam mir auf dem Fahrrad entgegen, und ich betete, daß er mich nicht ansprechen möge, nicht der, nicht jetzt, aber natürlich bremste er scharf, stellte einen Fuß auf den Boden und sagte: «Ey, Sonja, hast du schon das von Hansi gehört?» Ich war an Hansi längst nicht mehr interessiert, fast war es mir sogar peinlich, eine Zeitlang mit ihm gegangen zu sein, wie man das damals nannte. Hansi war ein seltsamer Kauz, der mitten in Gesprächen plötzlich laut auflachte oder in Tränen ausbrach, und jedem erzählte er seine Geschichte mit dem Kölner Dom, wir konnten es schon alle nicht mehr hören. Ich ging einfach weiter, kickte eine Kastanie und überlegte, ob Irma wohl zu James Deans Beerdigung fahren und ihm all die Briefe und das Tagebuch ins Grab werfen würde, und die Tränen liefen mir übers Gesicht, ohne daß ich wußte, warum. «Ey», sagte Holger, «heulst du wegen Hansi?» Ich schüttelte den Kopf und sagte, um ihn abzulenken oder loszuwerden oder einfach nur quatschen zu lassen, damit ich meine Ruhe hatte: «Was ist mit Hansi?» - «In die Klapsmühle haben sie ihn gebracht», sagte Holger, «mit Blaulicht, gerade vor zwei Stunden. Er ist total durchgedreht, und weißt du, warum?» Armer Hansi, dachte ich, aber es wunderte mich auch nicht, seine kalten Hände, der kleine Mäusemund, die furchtsamen Augen - ganz normal war er wirklich nicht gewesen, genau deshalb hatte er mir ja damals irgendwie auch ganz gut gefallen. Ich zog den Ring mit den Initialen von Christian und James Dean vom

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