Kolonien der Liebe
ständigen Klagen meiner Mutter, und sie seufzte, wann immer sie mich bloß sah und auch, wenn ich gar nichts angestellt hatte: «Ach, Berti, Berti, was soll aus dir nur werden.»
Manchmal, wenn sie fand, ich hätte etwas besonders Furchtbares angestellt – etwa ein paar kräftige Schnürschuhe, wie wir sie immer anziehen mußten, gegen ein paar schneeweiße Mokassins in der Schule getauscht -, rief sie: «Warte, wenn Vater kommt, dann setzt es was!» Und wenn unser Vater dann abends müde den Weg vom Bus zum Haus hochgeschlurft kam, lief sie ihm schon entgegen und rief: «Paul, du mußt mit Berti reden, und nicht nur reden, du weißt schon, was ich meine, ICH jedenfalls werde mit dem Kind nicht mehr fertig.» Dann zwinkerte mir mein Vater zu und sagte: «Nach dem Essen bist du dran, Huberta», aber ich hatte keine Angst vor solchen Drohungen, ich kannte ihn ja. Die kleinen, schnellen, boshaft aus dem Hinterhalt verteilten Ohrfeigen meiner Mutter, die fürchtete ich, aber den Strafpredigten meines Vaters sah ich eher gelassen entgegen. Nach dem Essen stieg er in den Keller hinunter, bastelte ein bißchen herum, und wenn meine Mutter von oben rief: «Paul, vergiß nicht, was ich dir gesagt habe!», dann schrie er. «Berti, komm mal runter zu mir, aber SOFORT!» Traudel fing dann immer an zu weinen, sagte: «Au weia, jetzt haut er dich» und wollte tapfer mitgehen, aber ich klopfte ihr auf die Schulter, sagte: «Laß nur, in dieser Familie habe ich schon so viel überlebt, ich schaff auch das noch» und stieg die Kellertreppe hinunter. Meine Mutter riß hinter mir die Kellertür wieder auf und schrie: «Schon für diese Bemerkung hattest du noch eine verdient!» und lehnte die Tür nur an, um zu lauschen.
Unten stand mein Vater und versuchte, streng auszusehen.
«Huberta», fing er an, und dann schrie und tobte er, so könne das mit mir nicht weitergehen, ich wurde meine arme Mutter noch ins Grab bringen, was eigentlich in mich gefahren sei, ob ich in der Gosse landen wolle und so weiter, lauter solchen Unsinn, an den er selbst nicht glaubte, und dann flüsterte er: «Herrgott, nun heul doch ein bißchen», klatschte mit einem Stock auf einen Kartoffelsack, und ich schrie wie am Spieß, damit Mutter oben zufrieden war.
Am Ende waren wir beide ganz erschöpft, und er sagte: «Berti, reg deine Mutter nicht immer so auf, verdammt, und laß vor allem die Raucherei sein», und ich sagte: «Ist gut, Papa», und der Fall war erledigt. Wenn ich hochkam, stand meine Mutter zufrieden lächelnd am Herd, rührte in einer ihrer Pampen und sagte: «Das wird dir eine Lehre sein», und Traudel wischte sich die Tranen ab und flüsterte: «War's schlimm?» Ich nickte, weil sie mir dann meist ihren Nachtisch abgab oder mir mein Fahrrad putzte, damit es wieder Licht werde in meinem Herzen. Ach, meine liebe dumme Traudel, heute lebt sie in Kanada, hat einen Farmer geheiratet, fünf Kinder bekommen und ist auf Photos unermeßlich fett. Aber wer weiß, vielleicht ist sie glücklich, obwohl wir drei Madchen zum Glücklichsein eigentlich kein rechtes Talent haben.
Eines Abends - wir lagen schon in den Betten - hörten wir unten im Wohnzimmer einen Riesenkrach. Die Eltern stritten sich, lauter und heftiger als je zuvor. Traudel und ich hatten ein gemeinsames Zimmer mit Doppelstockbetten. Ich schlief oben, und als ich runtersprang, um mein Ohr auf den Fußboden zu legen, wurde Traudel auch wach und fing gleich an zu heulen.
«Was ist los?» flüsterte sie, und ich sagte: «Ich glaube, sie lassen sich scheiden.» In meiner Klasse war ein Madchen, dessen Eltern sich gerade scheiden ließen, und sie erzahlte jeden Tag neue unglaubliche Geschichten darüber, was zu Hause alles los war, wie die Ehebetten durchgesagt wurden, wie die Eltern um jedes Möbelstück feilschten und wie der Vater sein Essen nicht mehr in den gemeinsamen Kühlschrank stellen durfte, sondern den Käse und die Wurst, die er aß, in einem Säckchen zum Fenster hinaushängen mußte. Ich hatte eine Scheidung gern erlebt, zumal dann im Haus auch mehr Platz gewesen wäre - ich stellte mir vor, daß Mutter und Bella auszogen und Traudel und ich mit Vater und Molli allein blieben.
Wir schlüpften auf den Flur und setzten uns auf die oberste Treppenstufe, von wo aus man alles gut hören konnte. Sogar Bella kam aus ihrem Zimmer, in einem geblümten Bademantel, den ich noch nie an ihr gesehen hatte. Sie sparte immer heimlich das Geld, das unsere Tanten und Großmutter uns
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