Kolyma
Tag
Soja saß frierend auf dem Dach, um sie herum fiel der Schnee. Seit ihrer Rückkehr kletterte sie jeden Tag hier herauf und blickte über die Stadt. Hier stürzten keine Dächer ein, hier peitschten keine Schüsse, und vorbeifahrende Panzer brachten keine Dachziegel zum Scheppern. Soja kam sich vor, als sei sie gar nicht in Moskau, auch nicht woanders, sondern einfach nur in einem Schwebezustand. Das Heimatgefühl, das sie in Budapest verspürt hatte, hatte mit jener Stadt gar nichts zu tun gehabt, auch nicht mit dem Aufstand, sondern einzig und allein mit Malysch. Sie vermisste ihn so sehr, dass es ihr vorkam, als fehle ein Teil von ihr selbst. Malysch hatte ihr die Last der Einsamkeit von den Schultern genommen. Jetzt war diese Last wieder da, schwerer als je zuvor.
Sie hatten ihn außerhalb von Budapest beerdigt. Soja wollte seinen Leichnam nicht im Krankenhaus lassen, so anonym zwischen all den anderen Toten, ohne Familie oder Freunde, die ihn betrauerten. Leo hatte ihn durch den russischen Belagerungsring getragen. Schließlich hatten sie unter einem Baum die gefrorene Erde aufgehackt und ihn dort begraben, ein Stück abseits der Straße, auf der unterdessen die Panzer und Lastwagen vorbeigerollt waren. Mit Malyschs eigenem Messer hatte sie seinen Namen in die Rinde des Baumes geschnitten. Dann war ihr eingefallen, dass er ja gar nicht lesen konnte, also hatte sie um die Buchstaben noch ein Herz geritzt.
Als Soja zum ersten Mal aufs Dach geklettert war, war Raisa besorgt nachgekommen, vermutlich aus Angst, sie würde sich hinabstürzen. Doch seit Raisa und Leo begriffen hatten, dass Soja einfach nur hier oben sitzen wollte, ließen sie sie gewähren, auch wenn sie stundenlang blieb. Soja griff sich eine Handvoll Schnee und sah zu, wie er schmolz.
* * *
Raisa deckte den Abendbrottisch ab. Als sie sich umdrehte, stand Soja schlotternd in der Küchentür, das Haar voller Schnee. Raisa nahm ihre Hände.
»Du bist ja ganz kalt. Setz dich. Willst du etwas essen? Ich habe dir etwas aufbewahrt.«
»Ist Elena schon im Bett?«
»Ja.«
»Und Leo?«
»Der ist noch nicht zurück.«
Elena war aus dem Krankenhaus zurückgekehrt. Das Wunder, dass Soja noch am Leben war, hatte auch ihr den Lebensmut zurückgegeben. Als Soja ihre Schwester gesehen hatte, war sie vor lauter Schuldgefühl in Tränen ausgebrochen. Elena war besorgniserregend abgemagert. Man musste Soja nicht erst erklären, dass ihre kleine Schwester nicht mehr viel länger gelebt hätte. Fragen hatte Elena keine gestellt. Sie war so überglücklich, dass die Einzelheiten dessen, was passiert war und warum, sie gar nicht interessierten. Hauptsache, ihre Familie war am Leben.
Raisa hockte sich vor Sojas Stuhl.
»Was ist los?«
Ein Schlüssel drehte sich in der Wohnungstür. Leo kam herein, er wirkte abgehetzt und hatte ein erhitztes Gesicht. »Tut mir leid ...«
Raisa antwortete: »Da bist du ja noch rechtzeitig gekommen, um den Mädchen etwas vorzulesen.«
Soja schüttelte den Kopf. »Kann ich zuerst mit euch reden? Mit euch beiden?«
»Natürlich.«
Leo kam in die Küche, zog zwei Stühle heran und setzte sich neben Soja. »Was hast du denn?«
»Früher habe ich Elena immer alles gesagt. Aber seit ich wieder da bin, ist sie so glücklich. Ich will das nicht kaputtmachen. Ich will ihr nicht erzählen, was passiert ist. Ich will ihr nicht die Wahrheit sagen. Dass ich sie im Stich gelassen habe.«
Soja fing an zu weinen. »Wenn ich ihr doch die Wahrheit sage, glaubt ihr, dass sie mir dann verzeiht?«
Leo hätte jetzt gern seinen Arm um Soja gelegt, doch er ahnte, dass ihr das noch nicht recht wäre.
»Sie hat dich sehr lieb«, tröstete er sie.
Soja sah erst Leo an, dann Raisa. »Aber wird sie mir auch verzeihen?«
Alle drei wandten die Köpfe zur Tür. Da stand Elena in ihrem Nachthemd. Sie war erst eine Woche wieder zu Hause und wirkte trotzdem schon wie verwandelt. Sie hatte zugenommen und wieder Farbe bekommen. »Was ist denn los?«
Soja lief zu ihr. »Elena, ich muss dir etwas sagen.« Leo stand auf. »Aber vorher erzähle ich euch erst einmal eine Gutenachtgeschichte.«
Elena freute sich. »Selbst ausgedacht?«
Leo nickte: »Selbst ausgedacht!«
Soja wischte sich die Tränen ab und nahm Leos Hand.
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