Komm
Welt auf, nicht aus dem eigenen Land. Es wird ihm erst bewusst, als er daran denkt, was sie eben gesagt hat:
»Ihr wollt nichts verstehen in diesem Land!«
Und hierzulande, nehmen Sie Tove Ditlevsen , schreibt er. Jørgen-Frantz Jacobsen.
Er nimmt das Foto auf dem Tisch in die Hand. Seine Frau lacht ihr Töchterchen auf dem Arm an, das damals zwei war. Nun ist es vierzehn.
Diese Jahre lagern in den Büchern auf dem Regal. Würde sie sagen.
Was glaubt sie eigentlich, wer sie ist?
Das ist kein Problem, wenn es die Bücher wert sind.
Sind sie es?
Er geht wieder zum Fenster. Das ist absurd! Sie wird seine Rede niemals hören. Er schiebt die Gardine zur Seite. Der Schnee flutet an der Scheibe vorbei wie eine lebendige Außengardine.
Wann hat die Sache mit Lula aufgehört?
Vor fünf Jahren? Vor sechs?
Er betrachtet das Foto in seiner Hand. Um seine Frau wird er von vielen beneidet. Wenn sie einem andern gehörte, wäre er auch neidisch. Er ist stolz auf sie. Auf ihren Namen. Integrationsministerin. Zusammen stellen sie etwas dar. Viel. Eine solche Frau an seiner Seite zu haben bedeutet etwas. Ohne sie wäre er nicht, wo er ist. Das hätte Lula verstehen müssen.
Wo wäre er denn sonst?
Sie sieht zehn Jahre jünger aus, als sie ist, die Ministerin. Seine Frau.
Ist das den Preis wert?
Selbst wenn sich ihre Geschichte als wahr erweisen sollte und der Autor wirklich über sie geschrieben hat, was würde es nützen, wenn er es ablehnte, den Roman zu veröffentlichen?
Sein Blick vermeidet ihre Schritte im Schnee, er geht zurück und setzt sich wieder.
Man würde ihn nur woanders veröffentlichen.
Er stellt das Foto hin und beugt sich wieder über seine Rede.
Eine Seite. Er braucht mindestens acht.
VI
S ie hat es nicht gesagt.
Das mit dem Land. Oder?
Es ist, als könnte er ihre Stimme dergleichen sagen hören. Aber kommt es ihm nicht nur deswegen so vor, weil sie so aussah, als könnte sie so etwas sagen? Sie hat es nicht gesagt. So viel weiß er. Und trotzdem hört er sie sagen:
»Ihr wollt nichts verstehen in diesem Land!«
Als stünde dieser Satz ausgesprochen zwischen ihnen. Zwischen seinen und ihren Augen. Aber wo entstand er?
Sie ist von hier. Zwar irgendwo in Mitteleuropa geboren, Slowenien, Tschechei, Ungarn oder wo auch immer, aber aufgewachsen in der Hauptstadt wie er. Also warum sollte ihm das Land mehr gehören als ihr?
Warum beschäftigt ihn das? Er soll eine Rede schreiben.
Ist es nicht in allen Ländern so?
Sie hat es nicht gesagt. So viel weiß er.
Was wollen wir eigentlich nicht verstehen?
Jeder Künstler muss selbst einen Pakt mit seiner Umgebung schließen , schreibt er.
»Das ist ja gerade das Problem. Er hat gesagt, dass er nie über Dinge schreibe, die andere ihm erzählt hätten.«
»Du hast es erzählt. Du hättest auch den Mund halten können.«
»Ist das die Lehre, die wir daraus ziehen sollen? Dass Vertrauen nur missbraucht werden kann, weil man so dumm war, überhaupt Vertrauen zu haben?«
Eine Diskussion, die sie nicht geführt haben. Trotzdem geht sie ihm durch den Kopf. Wo hat er von diesen Frauen gelesen, die Fußspuren hinterlassen, und das Problem sei bloß, dass man sich nie sicher sei, ob es Fußspuren aus Tag oder aus Nacht sind. Herrgott, wie banal! Oder hatte es ihm einer erzählt? Teufel noch mal, hat er es nicht eben erst gelesen? Er schlägt das Manuskript auf, lässt den Blick über die feuchten Seiten laufen. Kapitel zwei, da steht es:
»Sie gehört zu diesen Frauen, die Fußspuren hinterlassen. Das Problem ist nur, dass man nicht weiß, ob sie aus Tag oder aus Nacht sind.«
So steht es da, aber er kennt die Worte von anderswo her. Stimmt, es war bei der jährlichen Weihnachtsfeier. Sie war nirgendwo zu sehen. Zwei Männer im Gespräch, der eine lehnt sich an die Wand, der Autor. Der andere, auch Autor, steht, zum ersten gewandt, ein wenig gebeugt und sagt die Worte mit leichtem Kopfschütteln. Fußspuren im Nacken. Es könnte sich um irgendjemanden handeln.
Wieder betrachtet er das Bild seiner Frau. Mit seinem dritten Kind, der Rahmen ist aus schwarzem Leder, dünner doppelter Goldrand, helles Haar und blaue Augen. Lula hatte halblange braune Haare. Die Fotos des Sohnes, neunzehn, und des ältesten Kindes, der einundzwanzigjährigen Tochter, stehen hinten auf dem Regal. Er ist immer stolz gewesen, sie zu zeigen. Jetzt hat er den Eindruck, ihre schwarz-weißen Augen und ihr flaches Lächeln wollten ihm etwas
Weitere Kostenlose Bücher