Lelord, Francois
Franqois Lelord
Hector und das Wunder der
Freundschaft
Aus dem
Französischen von Ralf Pannowitsch
Der
Oberkörper des Leibdieners war in einen weißen Spencer gezwängt, seine Beine
jedoch umhüllte ein traditionelles Seidengewand. Er gab ihr ein Zeichen, und
die junge Frau trat in das Halbdunkel.
Am anderen
Ende des Saales konnte sie die Umrisse einer Person erkennen, die unter einem
Baldachin saß. Der Raum war fast leer, ganz nach den alten Gebräuchen, denn selbst
bei den Königen hatten zum Sitzen, Essen und Schlafen stets Matten ausgereicht
- bis die britischen Invasoren den Geschmack an Möbeln mitgebracht hatten.
Nachdem
sie einige Schritte getan hatte, kniete sie auf dem Rosenholzboden nieder,
denn sie wusste, dass es sich nicht schickte, wenn sie auf ihren Gastgeber
herabschauen konnte. Er war zwar kein König, verfügte aber über genügend Macht,
um diese Geste der Unterordnung einfordern zu können, und außerdem war er zu
alt, um noch zu merken, dass die Welt sich wandelte.
Er machte
ihr kein Zeichen, dass sie sich erheben durfte.
Sie grüßte
ihn, indem sie die Hände faltete und den Kopf senkte.
»Und?«,
fragte er.
Sein
Gesicht konnte sie nicht erkennen, nur seine goldgerahmte Brille blitzte im
Schein der einzigen, beider Tür auf gehängten Lampe schwach auf. Es hieß, dass
seine kranken Augen das Licht nicht mehr vertrugen.
»Wir
arbeiten daran, mein Gebieter. Wir folgen der Spur des Geldes.«
Sie vernahm
einen verächtlichen Seufzer. Dann fuhr sie fort: »Wir haben einen Informatiker
von der Harvard University eingestellt, der auch für die amerikanische
Regierung arbeitet.«
»Was soll
das nützen? Dafür ist er zu clever.«
Die junge
Frau verspürte Genugtuung. Auch sie hielt das für unnütz. Wer imstande war,
einer Bank solche Summen zu stehlen, wusste auch, wie man die Spuren hinter
sich verwischt.
»Ich
verfolge aber noch einen anderen Weg, mein Gebieter.«
Er
schwieg. Schließlich sprach sie weiter.
»Dieser
Mann hat Freunde. Ich werde der Spur der Freunde folgen.«
Diesmal
konnte sie sein Lächeln ausmachen, das ebenfalls golden aufblitzte.
»Freunde«,
sagte er, »Freunde sind eine Schwäche.«
Sie dachte
daran, wie viele seiner alten Freunde der General ins Gefängnis hatte werfen
lassen, und sagte sich, dass ihm bestimmt kaum noch Schwächen blieben.
Außer
seinem Alter natürlich und dem unbändigen Gefallen, den er an Gold fand.
Hector hat keine Zeit für seine Freunde
Ohne Freunde möchte niemand leben,
auch wenn er alle übrigen Güter besäße.
Aristoteles
Es war
einmal ein junger Psychiater namens Hector, der keine Zeit mehr hatte, seine
Freunde zu sehen.
Dass Hector
keine Zeit für seine Freunde hatte, lag zunächst mal daran, dass er viel
arbeitete und abends oft zu müde zum Ausgehen war. Außerdem war er inzwischen
verheiratet und Vater eines kleinen Jungen, und da hat man nur noch selten die
Gelegenheit, jemanden einfach so anzurufen und zu fragen: »Wollen wir nicht
einen trinken gehen?« Ganz davon abgesehen, dass unglücklicherweise auch die
meisten seiner Freunde verheiratet waren - und manchmal waren ihre Frauen
bezüglich Männerabenden, die bis tief in die Nacht gingen, nicht so
verständnisvoll wie seine wunderbare Clara.
Und
außerdem war Hector noch eines aufgefallen: Je weiter man im Leben vorankommt,
desto häufiger muss man zu Abendeinladungen mit Leuten gehen, die man nicht
unbedingt zu seinen Freunden zählt. Solange man jung ist, kann man es so
einrichten, dass man nur seine besten Freunde trifft und jede Menge Zeit mit
ihnen verbringt - ein Glück, über das man sich übrigens genauso wenig im Klaren
ist wie über das Glück, jung zu sein!
Hector hatte
auch festgestellt, dass das Thema Freundschaft, das für ihn eine Quelle des
Glücks war, vielen seiner Patienten Kummer bereitete.
So
beispielsweise auch Julie. Julie war eine sympathische und aufgeschlossene
junge Frau, die Freunde und vor allem Freundinnen hatte. Weshalb kam sie also
zu Hector in die Sprechstunde? Julie war einfach ein bisschen zu sensibel. Sie
war groß gewachsen und hatte einen rosigen Teint und kastanienbraunes Haar,
auf ihrer Nase saßen ein paar Sommersprossen, ihre Augen hatten denselben
Farbton wie die Haare, und sie sah immer melancholisch aus. Wie Hector fand,
hätte Julie durchaus attraktiv sein können, aber sie wusste es nicht. Nicht
nur, dass sie es vermied, sich zur Geltung zu bringen, sie versuchte sogar, den
Blicken
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