Kovac & Liska 02 - In aller Unschuld
seinem Dienstgrad ansprach.
»Nein, werde ich nicht.«
Carey überlegte, ob sie ihm sagen sollte, dass Kovac unterwegs war. Aber sie glaubte nicht, dass das etwas an seinem Vorhaben ändern würde, abgesehen davon, dass er sich vielleicht gezwungen fühlen könnte, sie früher als geplant zu töten.
»Wie lange sind Sie Polizist gewesen?«, fragte sie. »Zwanzig Jahre? Länger? Nichts davon wird noch irgendeine Bedeutung haben, wenn Sie das tun. Das ist dann das Einzige, woran man sich erinnern wird, wonach man Sie beurteilen wird.«
Er verzog verächtlich den Mund. »Sie begreifen gar nichts. Ihr sitzt da oben auf eurem Stuhl in euren Roben«, sagte er angewidert. »Das Ganze ist nur ein interessantes Spiel zwischen den Anwälten, und Sie sind die Schiedsrichter. Das Opfer zählt überhaupt nichts für Sie.«
»Das ist nicht wahr.«
»Denken Sie nur an Marlene Haas. Sie war eine anständige Frau, die sich um ihre Familie gekümmert hat. Wollen Sie wissen, welches Martyrium Karl Dahl ihr bereitet hat?«
»Ich weiß, was er getan hat.«
»Trotzdem verschaffen Sie diesem Schwein jede erdenkliche Erleichterung. Vielleicht können Sie nicht verstehen, was es bedeutet, Opfer zu sein, bevor Sie es am eigenen Leib erfahren. Stehen Sie auf.«
Carey konnte nicht länger darauf warten, dass Hilfe kam. Wenn sie aufstand, würde Dempsey sie zwingen, die Decke fallen zu lassen. Entweder müsste sie dann auch das Messer fallen lassen, oder er würde es ihr wegnehmen.
»Stehen Sie auf«, wiederholte er, ärgerlicher diesmal.
Über dem Gebäude war ein Grollen zu vernehmen. Dempsey drehte den Kopf und sah nach oben. Rasch ließ Carey ihre Fingerspitzen am Griff des Messers entlang zur Klinge gleiten und schob es Zentimeter für Zentimeter unter den Ärmel ihres Hemds. Als Dempsey sich ihr wieder zuwandte, erhob sie sich.
»Ein Sturm zieht auf«, sagte er, als ob sie das interessieren würde.
Er bedeutete ihr mit dem Lauf der Pistole, vor ihm her zur Türöffnung zu gehen.
Schutt schnitt ihr in die bloßen Fußsohlen. Carey unterdrückte einen Schmerzenslaut. Es würde ihn wahrscheinlich noch wütender machen, wenn sie jammerte, weil sie über Steine und Glasscherben gehen musste, während Marlene Haas unvorstellbare Qualen erlitten hatte.
Stan Dempsey würde kein Mitleid mit ihr haben. Er wollte Gerechtigkeit üben, ohne Wenn und Aber. Und Carey fürchtete, dass es sich dabei um eine grausame Form von Gerechtigkeit handelte.
Sie würde bald etwas unternehmen müssen. Wenn sie es schaffte, sobald sie das Gebäude verließen …
Allein vor dem Gedanken, einen anderen Menschen mit einem Messer zu verletzen, graute es ihr. Sie hatte in ihrem Beruf stets jede Form von Gewalt bekämpft. In ihrem ganzen Leben hatte sie niemals einem anderen Menschen Gewalt angetan, oder überhaupt einem Lebewesen, um genau zu sein.
Sie wusste nicht, ob sie es fertig bringen würde. Das, was sie in der Hand hielt, war kein Stück Plastik, das nur wenig Schaden anrichten konnte. Es war ein Fleischmesser, so scharf wie eine Rasierklinge. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es sich anfühlte, wenn die Spitze durch die Haut eines Menschen drang, durch Muskeln, Organe. Bei der Vorstellung wurde ihr übel. Sie zitterte innerlich.
Komm doch, Sam …
Sie wusste nicht, wie nah oder fern Hilfe war. Wenn Stan Dempsey sie zwang, in einen Wagen zu steigen, und mit ihr wegfuhr …
Carey hatte bei genug Vergewaltigungs- und Mordprozessen die Anklage vertreten oder den Vorsitz geführt, um zu wissen, dass eine Frau in den meisten Fällen dem sicheren Tod entgegensah, wenn sie zu einem gewaltbereiten Mann in den Wagen stieg.
Als sie sich dem Eingang näherten, durch den Dahl und sie das Gebäude betreten hatten, sah sie, dass die Sonne, die sie vor ein paar Stunden geblendet hatte, als Dahl den Kofferraum geöffnet hatte, verschwunden war. Stattdessen bedeckten den Himmel jetzt schwere, tief hängende Wolken, die dem Sonnenlicht, das sie zu durchdringen versuchte, etwas Unheimliches verliehen.
Über ihren Köpfen war erneut Donnergrollen zu vernehmen.
Langsam und vorsichtig ließ Carey das Messer in ihrem Ärmel nach unten in ihre Hand gleiten.
Als sie ins Freie traten, drehte Dempsey sie nach links, und sie schnappte nach Luft.
Karl Dahl war mit Handschellen an das alte Eisengeländer der Treppe gekettet, er hing leblos in seinen Fesseln, bewusstlos – oder tot – , und sein Kopf war blutüberströmt.
»Das ist das, was er verdient hat«,
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