Kovac & Liska 02 - In aller Unschuld
bedrohliche Gefühl, dass die Menschen, die sie liebte, sich in Gefahr befanden und verletzt werden könnten. Die Angst, allein zu sein und dass ihr Angreifer zurückkommen könnte.
»Ich krieg dich noch, Miststück!«
Die Erinnerung an diese tiefe, gemeine Stimme glich einer eiskalten Hand, die sich um ihren Hals schloss.
Carey schüttelte die Erinnerung ab und ging langsam und unter Schmerzen ins Erdgeschoss hinunter.
Im Arbeitszimmer fand sie Spuren von David. Er hatte die Nacht auf dem Sofa verbracht. Auf dem Boden lag eine goldfarbene Chenilledecke. Ein schweres, geschliffenes Glas – leer bis auf eine eingetrocknete Zitronenscheibe – stand auf dem Beistelltisch, ohne Untersetzer. Typisch! Carey nahm das Glas hoch und rieb mit dem Daumen über den feuchten Ring, den es hinterlassen hatte. Sie konnte noch den säuerlichen, beißenden Geruch des Cocktails riechen.
Sie war diejenige, die zusammengeschlagen und bedroht worden war, und er war derjenige, der trank.
Von der wenigen Bewegung erschöpft, ließ sich Carey auf den Ledersessel hinter Davids Schreibtisch sinken. Die Stille in dem Raum dröhnte in ihren Ohren, und ein Schwindel überkam sie, als befände sie sich während eines Orkans auf einem Segelboot. Sie wartete, konzentrierte sich auf die Gegenstände auf dem Schreibtisch – den Flachbildschirm, das Telefon, den Notizblock.
Bei einem der vielen Male, die sie in der Nacht wach gelegen hatte, hatte sie zu hören geglaubt, dass David mit jemandem sprach. Das fiel ihr in diesem Moment wieder ein, und sie fragte sich, ob es tatsächlich geschehen war oder ob sie bloß davon geträumt hatte. Mit wem könnte er um drei Uhr nachts gesprochen haben? War Kovac so lange geblieben? Sie erinnerte sich nicht, seine Stimme gehört zu haben. Nur die ihres Ehemanns.
Sie sah sich den Notizblock genauer an. David kritzelte beim Telefonieren immer herum. Das oberste Blatt des Blocks war leer, aber man konnte Eindrücke erkennen, auch wenn keine Worte zu entziffern waren. Aber obenauf in dem ledernen Papierkorb, der neben dem Schreibtisch stand, lag ein zusammengeknülltes Blatt Papier von demselben Block.
Sie zögerte keine Sekunde. Ohne auch nur einen Anflug von schlechtem Gewissen fasste Carey in den Papierkorb und holte den Notizzettel heraus. Sie strich ihn glatt und betrachtete ihn mit derselben Nüchternheit, mit der sie als Staatsanwältin Beweismittel betrachtet hatte.
Der größte Teil der Kritzeleien bestand aus geometrischen Figuren, Würfeln, Rechtecken, Quadraten. In der Mitte des Blatts stand eine Geldsumme, fünfundzwanzigtausend Dollar, die dreimal unterstrichen worden war.
Vielleicht hatte er endlich einen Geldgeber für sein Projekt gefunden?
Aber wenn er das Blatt während des Gesprächs, das sie gehört zu haben glaubte, bekritzelt hatte, dann hatte es mitten in der Nacht stattgefunden. Um drei Uhr morgens wurden keine Geschäfte abgeschlossen, es sei denn, David hätte plötzlich irgendwelche Investoren in China aufgetan.
Nächtliche Flüstereien fanden zwischen Liebespaaren statt oder zwischen Leuten, deren Geschäfte nicht im hellen Tageslicht getätigt werden konnten.
Fünfundzwanzigtausend Dollar waren eine Menge Geld. Fünfundzwanzigtausend Dollar mitten in der Nacht hatten mit Entlohnung, Bestechung, Erpressung zu tun …
Carey faltete das Blatt zusammen und steckte es in die Tasche ihrer Jogginghose, fragte sich, worauf ihr Ehemann sich da eingelassen hatte.
Sie starrte das Telefon an, überlegte, ob sie es tatsächlich tun sollte. Sie würde damit eine bestimmte Tür öffnen und hindurchtreten, auf einen Weg gelangen, der möglicherweise zum Ende ihrer Ehe führte. Aber sie war auch so schon längst zu der Überzeugung gelangt, dass ihre Ehe vorbei war. Es gab keine Veranlassung, beunruhigt zu sein oder sich vor dem zu fürchten, was sie entdecken würde.
Sie unterdrückte jedes Gefühl – Schuld, Traurigkeit, Wut – , nahm den Hörer auf und ließ sich den zuletzt empfangenen Anruf anzeigen. Die geheimnisvolle Nummer. Der Anrufer, der nach Marlene gefragt hatte. Derselbe Mann, der ihr über ihr Handy ins Ohr geflüstert hatte: Ich krieg dich noch, Miststück .
Wenn David an diesem Telefon gewesen war, war es ein ausgehender Anruf.
Sie drückte auf die Wahlwiederholung, wartete, als es am anderen Ende der Leitung klingelte, dann wurde abgenommen, und ein Band war zu hören, das die Öffnungszeiten eines Pizza-Heimservice bekannt gab.
Für fünfundzwanzigtausend Dollar
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