Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
reinen weiblichen Natur, statt ihnen zu genügen, zerstört, indem
er ihr nichts als die groben Seiten der Ehe bot. Schlimm, wenn es einem anderen gelingt, die vom Ehemann hinterlassene Leere auszufüllen, und er jene erste, idealisierte Liebe auf sich zieht.
Die ganze Nacht lang litt der Fürst schrecklich, und erst am Morgen erschien der Arzt. Er legte einen Verband an und verordnete völlige Ruhestellung des Beins.
Die Krankheit zog sich qualvoll hin. Der Fürst war ungeduldig, fordernd, unerträglich argwöhnisch. Seine Bewegungslosigkeit brachte ihn außer sich. Anna durfte sich kaum von der Stelle rühren. Nachbarn kamen nach ihm sehen. Auch wenn ihn das vorübergehend ablenkte, langweilte er sich entsetzlich und stellte seine Frau fortwährend zur Rede.
«Wo warst du?», wollte er wissen, wenn sie sein Zimmer für eine Weile verlassen hatte.«Was hast du gemacht?»
«Einen Spaziergang mit den Kindern», lautete Annas Antwort, oder:«Einen Brief geschrieben», oder:«Manja und Pawlik eine Unterrichtsstunde gegeben».
Alle diese Antworten überprüfte der Fürst durch Befragung der Kinder und des Gesindes; wie beiläufig brachte er das Gespräch darauf, was denn die Mama gerade mache oder ob sie nicht
wüssten, wo die Fürstin sei. Er hätte nicht sagen können, wessen er seine Frau verdächtigte, es war krankhaft, geradezu ein Wahn.
Bechmetew kam nur einmal sich nach dem Befinden des Fürsten erkundigen. Er hatte selbst die ganze Zeit weitergekränkelt und stand unmittelbar vor der Abreise ins Ausland. Anna entschuldigte sich mit Müdigkeit dafür, dass sie ihn nicht begrüßte. Nach jenem Ausritt war sie die Gewissensbisse nicht losgeworden, als hätte sie einen Fehltritt begangen. Ihr Selbsterhaltungstrieb war so stark, dass sie sich mit aller seelischen Kraft dazu zwang, ihr minutenlanges Empfinden zu vergessen.
Die Erfüllung ihrer Pflichten als Frau und Mutter half ihr dabei. Außerdem sorgt die materielle Seite des Hausfrauenlebens für die zeitweilige Abkühlung aller möglichen Leidenschaften.
«Euer Durchlaucht, belieben Sie es sich anzusehen», bat die Wirtschafterin Anna aus dem Zimmer ihres Mannes,«der Tapezierer fragt, ob er die Möbel richtig bezogen hat.»
Anna ging in die Gesindestube, um sich die Möbel anzusehen, und schrie entsetzt auf. Sie waren mit dem teuren Stoff verkehrt herum bezogen, die grellfarbenen Querfäden auf der Rückseite des Stoffs sprangen ins Auge.
«Was haben Sie da bloß angerichtet? Ist denn das die Möglichkeit, alles verkehrt herum!», rief Anna.
Alles musste abgerissen werden, der Stoff war verdorben und Anna für den ganzen Tag verstimmt.
Einige Tage später wurde Anna wieder herausgerufen.«Seien Sie so lieb, Mütterchen Euer Durchlaucht, es ist kein Auskommen mit dem Koch; er hat sich betrunken, dem Fürsten ist die Suppe zu reichen, aber er lässt niemand ran, schreit herum.»
Anna ging in die Küche, trat rasch auf den Koch zu und herrschte ihn in einem Ton an, der jeden Widerspruch ausschloss:«Hinaus, auf der Stelle!»
Daraufhin übergab er die Suppe dem Buffetier und schoss wie der Blitz aus der Küche.
Als Anna in ihr Zimmer zurückkehrte, zitterte sie am ganzen Leib und hatte Tränen in den Augen. Die materielle Seite des Lebens war ihr verhasst und jeder Ärger unerträglich.
X
Der August ging zu Ende. Schon war in den frischen Abenden, im ersten Gelb und Rot der Blätter, in der Wehmut der kahlen Felder und Wiesen und den kürzer gewordenen Tagen der Herbst zu spüren.
Der Fürst war wieder gesund, ging allerdings noch an Krücken und verlangte unter kapriziösen Klagen über seine langsame Genesung ständig nach dem Arzt. Deutlich abgemagert, hatte sich Anna inzwischen gefangen und war ohne Bedauern und ohne Schwanken, im frohen Bewusstsein ihrer Pflichterfüllung und mit verstärkter Energie in die festen Bahnen des Familienlebens zurückgekehrt.
Von Bechmetew hatte sie schon geraume Zeit nichts gehört, sein anhaltendes Fernbleiben irritierte sie und beunruhigte sie in tiefster Seele.
Einmal saß sie im Arbeitszimmer ihres Mannes und las ihm aus der Zeitung vor. Der Fürst lag auf dem Diwan und blickte in Erwartung des Arztes unruhig zum Fenster.
«Du hast bestimmt nicht nach dem Arzt geschickt? », fragte er.
«Schon lange. Aber wozu willst du ihn überhaupt sehen? Helfen kann er dir doch nicht; alles
braucht seine Zeit. Seit wann setzt du solches Vertrauen in die Ärzte?»
«Der Verband drückt. Ich weiß, dass alle Ärzte
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