Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
für sie nicht das Rechte war; dass ihr seine Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Innenleben und ihren Kindern weh tat; wie erniedrigend es für sie war, dass sein Interesse allein ihrer blühenden Schönheit, ihrer Gesundheit und ihrem äußeren Erfolg galt, der ihn freute und zugleich jene triebhafte Eifersucht in ihm weckte, unter der sie so schrecklich leiden musste.«Was soll nun werden? Wie stehe ich jetzt zu meinem Mann?», fragte sich Anna, da sie wie eine Ertrinkende nach dem Strohhalm griff, der sie retten sollte. Sie lief Gefahr zu ertrinken, ihr war völlig bewusst, dass sich der Strohhalm in ihren schwachen Händen bog und ihr die Rettung nicht bringen konnte.
Doch das Schicksal kam ihr zu Hilfe und betrog sie mit der Aussicht, ihre qualvolle seelische Verfassung zu überwinden.
Der Fürst, der in letzter Zeit von wirtschaftlichen
Neuerungen stark in Anspruch genommen war, fuhr in die Stadt, um persönlich eine neue Dampfdreschmaschine zu übernehmen. Es war sehr feucht und kalt, und obwohl Anna ihn bat, mit der Kutsche zu fahren, machte er sich zu Pferde auf den Weg. Es wurde spät, die Dunkelheit brach herein, der Fürst aber kam und kam nicht. Anna begann sich bereits Sorgen zu machen, als ein Pferdefuhrwerk vor dem Haus hielt und der Fürst von ihm heruntergehoben wurde. Anna schrie auf vor Entsetzen und stürzte ihrem Mann entgegen, der bereits ins Haus getragen wurde. Er lächelte mit schmerzverzerrtem Gesicht und stöhnte, beeilte sich jedoch, ihr zu sagen:«Ich habe mir das Bein gebrochen, wie es aussieht, nicht so schlimm, hab keine Angst.»
«Das Bein nur, Gott sei Dank! Ich dachte an Schlimmeres. Jedenfalls muss schnellstens ein Arzt geholt werden.»Sie ordnete an, dass nach dem Arzt geschickt wurde, dann lief sie in das Zimmer des Fürsten, brachte ihn ins Bett und sorgte für eine möglichst bequeme Lage seines Beins. Rasch und behände füllte sie eine Gummiflasche mit Eis und legte sie ihm an das Bein, danach setzte sie sich an sein Bett. Er wälzte sich stöhnend hin und her und hatte fortwährend Wünsche. Niemand anders konnte es ihm recht
machen. Anna übernahm seine alleinige Pflege mit Zärtlichkeit und Geduld. Sie war froh über diese schicksalhafte Gelegenheit, ihre Pflicht zu erfüllen.
«Komm zu mir», rief er in einem fort,«leg mir ein Kissen unter; ach, doch nicht so. Ich habe dich ganz zermürbt, mein Herz», sagte er und stöhnte wieder.
Gegen Morgen schlief der Fürst ein. Anna trat leise zu ihm heran und betrachtete forschend sein Gesicht. Die zerquälten schönen Züge übten eine merkwürdige Wirkung auf sie aus. Sie fühlte sich in jene ferne Vergangenheit zurückversetzt, als sie diesen Mann vertrauensvoll, blind und auf eine einfache Weise geliebt hatte, ohne ihn kritisch zu sehen.
«Wenn das wieder möglich wäre! Alles an ihm ist doch gut, er hat nur mich geliebt, ist mir nie untreu geworden; wer sich dumm verhält, das bin ich und nicht er, was will ich denn?»Sie beugte sich hinab und küsste ihn auf die Stirn.
«Ja, ich habe ihn allein geliebt, und er ist mir teurer als alle auf der Welt», überlegte Anna und verschloss eilig ihre Herzensgeheimnisse tief in ihrem Inneren, um nicht weiter daran zu rühren. Und sie legte sich ehrlich Rechenschaft ab über ihre Liebe zu dem Fürsten. Jene Stärke der Liebe
– einer jungen, leidenschaftlichen, idealisierten Liebe, die sie ihrem Mann in den ersten Ehejahren geschenkt hatte – war nicht mehr in ihr. Wie ihr Mann diese Liebe erwidert hatte, stand auf einem anderen Blatt, doch hatte sie das nicht zerstören können; ihre Liebe erlebte in jeder günstigen Situation neuen Auftrieb und erlitt jedes Mal einen Dämpfer, wenn sie nicht erwidert wurde.
Jetzt schlief der Fürst; weder hörte Anna jene Stimme, die sie so grob kränken konnte, noch sah sie jene Augen, die sie ungerecht – zornig oder wollüstig – betrachteten, sie sah allein den Mann, dem sie sich und ihre Liebe geschenkt hatte – und sie liebte ihn.
Im Leben jeder Frau gibt es die wahre Liebe nur ein Mal. Sie hütet und bewahrt sie bis zum rechten Moment. Doch hat sie sie erst verschenkt, hält sie sie in Ehren und verschließt die Augen vor den Unzulänglichkeiten dessen, an den sie sie verschenkt hat. Eine Wiederholung dieses Gefühls erwächst stets aus Altem, aus alten Idealen, und wenn es geschieht, dass eine verheiratete Frau einen anderen lieb gewinnt, trägt fast immer der Mann die Schuld; er hat die empfindsamen Ansprüche der jungen,
Weitere Kostenlose Bücher