Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
philosophischen Werke sind aus Langeweile entstanden und nur deshalb beliebt, weil sie voller Allgemeinplätze sind. Er ist ein Egoist, versteht nichts und liebt niemanden, und die Brautnacht ist eine Katastrophe! All das dürfte Tolstoi, der ewige Selbstanalysierer, auf sich bezogen haben, er konnte sich nicht nur für eine literarische Figur ausgeschlachtet fühlen, er bekam auch vorgeführt, was jemand spürt, dessen Existenz für lächerlich, böse und unnütz erklärt wird. All die giftigen Pfeile dürften ihr Ziel nicht verfehlt haben. Obwohl Tolstois Meinung zum Werk seiner Gattin nicht überliefert ist, er sogar in seinem Tagebuch schweigt, wo er sonst alles festhielt (was ein indirekter Beweis seines Getroffenseins ist), kennen wir die Meinung eines seiner Söhne, Lew, der diesmal als Sprachrohr
seines Vaters auftrat:«eine schlechte Erzählung, eine unbegründete und unberechtigte Verbitterung».
Allein die Einbeziehung des Familienglücks als Literaturvorlage muss für Tolstoi mehr als schmerzhaft gewesen sein. Jener kleine Roman war, nachdem er in einer Moskauer Zeitschrift erschienen war, von der Kritik so gleichgültig aufgenommen worden, dass der von Lob verwöhnte Autor einige Zeit mit dem Gedanken gespielt hatte, mit dem Schreiben ganz aufzuhören. Die Icherzählerin des Familienglücks verliebt sich in ihren Nachbarn und Vormund, einen Freund ihres verstorbenen Vaters, heiratet ihn und findet trotz einiger Krisen und dank Liebe, Verstand, Geduld und Respekt ihres überaus sympathischen Mannes ihr endgültiges Glück in Familie und Kindern. Eine Frage der Schuld ist eine Negativfassung des Familienglücks , ein Spiegel, der dem mit dem Universum ringenden Gatten vorgehalten wurde. Er musste den Fürsten Prosorski und folglich sich selbst mit seinem Alter Ego aus dem Familienglück – dem klugen, geduldigen, großzügigen, einnehmenden Sergej Michajlowitsch – vergleichen und feststellen, dass er nicht mehr so war, wie er sich ihr versprochen hatte.
Nicht mehr so gesehen wurde. Die Frage«Wessen Schuld?»war nicht allein die Frage, ob die Frau aus der Kreutzersonate an ihrem Tod selbst schuld sei oder doch der eifersüchtige Posdnyschew, sondern auch die Frage, wer an der Zerstörung der Gemeinschaft der Tolstois, ihres Familienglücks, ihrer Liebe schuld sei.«Du, Ljowotschka, nur du», sollte die Antwort in seinen Ohren hallen.«Du bist widerlich!»
Lew Tolstoi hatte sein Versprechen eines«familienglücksmäßigen»Familienglücks gebrochen, dem Sonja Behrs als junges Mädchen Glauben geschenkt, nach dem sie sich als Mensch und Frau geformt hatte. Und das nach gut zwanzig Jahren eines komplizierten, aber im Prinzip erfolgreichen Ehelebens.
So schrieb Sofja Tolstaja in ihrem Tagebuch:«Mein Leben lang habe ich sentimental von idealen Beziehungen, von umfassender Gemeinschaft geträumt und danach gestrebt …»Gegenseitige Achtung, menschliche Gemeinschaft – das war Sofja Tolstajas Familienideal. Sie war nicht die Frühfeministin, zu der sie heute gern stilisiert wird, sie verlangte nach keinem anderen Frauenrecht als nach dem Recht, ein empfindungsfähiger Mensch zu sein und als solcher behandelt zu werden. Vor allem vom eigenen Mann. Das war
im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts theoretisch allgemein anerkanntes Recht, auch in Russland. Nur ihr Gatte, der große russische Schriftsteller Graf Lew Nikolajewitsch Tolstoi, wollte in seinem persönlichen Kreuzzug gegen den Tod seiner Frau dieses Recht nehmen. Denn im Krieg gegen den Tod ist jeder allein;«des Menschen Feinde sind seine eigenen Hausgenossen», sagt auch die Bibel und meint dasselbe.
UND WAS IST MIT DER«KREUTZERSONATE»?
Egal wie oft Tolstoi unterstrich, erklärte und wieder erklärte, dass die Kreutzersonate nicht gegen Frauen gerichtet sei, sondern nur gegen Lüsternheit und fleischliche Liebe, man hat ihm nicht geglaubt. Auch heute glaubt man ihm nicht. Die ganze Polemik gegen die Kreutzersonate wurde«aus Sicht der Frau»,«in Verteidigung der Frau»,«für Frauenrechte»usw. usf. geführt. Sofort erschienen Dutzende und Aberdutzende«Antworten»dieser Art, in Russland und überall, und ihr Strom ebbte lange nicht ab. Sofja Tolstajas kleiner Roman war nicht für die Veröffentlichung gedacht (sie spielte zwar mit diesem
Gedanken, verwarf ihn aber), das Zielpublikum saß bei ihr im Haus, am Mittagstisch, aber unbewusst oder bewusst (ich glaube, eher bewusst, sie war eine ausgesprochen intelligente Frau) tarnte sie ihre
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