Kreuzberg
konnte es nicht weitergehen. Die einst so stolze U d SSR ,
sie war unter Gorbatschow zum Bittsteller geworden und zerfiel vor den Augen
der Weltöffentlichkeit.
»Hören Sie,
Meyer«, unterbrach Cordula seine Gedanken, »dass Sie Freigänger geworden sind,
nach nur knapp einem Dreivierteljahr Haft, geschah nicht ganz zufällig. Man
kennt Sie. Man schätzt Ihre Fähigkeiten. Sie sollten kooperieren.«
»Und was
bringt mir das?«, fragte er grimmig. »Freiheit, Rehabilitation? Die
Siegerjustiz der BRD hat mich verurteilt, obwohl
ich nur meinen geschworenen Eid erfüllt habe: die Deutsche Demokratische
Republik allzeit zu verteidigen!«
»Die DDR existiert nicht mehr.« Jetzt war sie es, die seinen Arm nahm. »Ich bin doch auf
Ihrer Seite, Meyer. Ich weiß, dass unsere sozialistische Staatengemeinschaft
das Korrektiv in einer ungerechten Welt war. Ohne uns hätte es die soziale
Marktwirtschaft nie gegeben. Der sogenannte gute Kapitalist des deutschen
Westens, der seine Mitarbeiter an Gewinnen beteiligte und wie eine Familie
behandelte, war ein Produkt unserer sozialistischen Politik. Weil wir da waren:
ein Staat der Arbeiter und Bauern.«
»Die hatten
hier schlichtweg Schiss vor der nächsten Revolution«, regte sich Meyer auf.
»Jetzt gibt es uns nicht mehr, und der Kapitalismus ist seine Fesseln
losgeworden. Warten Sie mal ab, was das für die Menschen hier bedeutet! Bald
werden sie ihre gute alte BRD nicht wiedererkennen. Statt
Sozialstaat Hungerlöhne und Ausbeutung pur für die Gewinnmaximierung einiger
weniger. Da braucht das arbeitende Volk dann bald zwei, drei oder vier Jobs, um
sich einigermaßen über Wasser zu halten. Der Manchesterkapitalismus erlebt eine
Renaissance«, er tippte sich auf die Brust, »weil wir nicht mehr sind.«
»Aber es
gibt uns doch noch«, sie lächelte sanft, »Sie und mich und viele andere.«
»Sie?«
Meyer lachte bitter. »Sie wollen mich umdrehen!«
»Unsinn!
Ich mache meinen Job. Aber wechsele ich deshalb meine Überzeugungen?« Und
leiser fügte sie hinzu: »Auch ich habe damals einen Eid geschworen, Meyer. Aber
nicht auf die DDR . Sondern auf unsere gemeinsame Sache.«
Meyer
starrte sie an. »Da machen Sie einen Unterschied?«
»Sie etwa
nicht?« Deckname Cordula hob enttäuscht die Schultern. »Schade. Ich hätte Sie
für intelligenter gehalten.«
Klar,
dachte Meyer, diese Cordula ist eine clevere Frau. Das waren sie schließlich
alle in der HA zwo. Gute Leute. Die Frage war: Meint sie es ernst und winkt
ganz heftig mit dem Zaunpfahl, oder stellt sie mir eine Falle?
»Sie mögen
mich vielleicht für eine Romantikerin halten«, Deckname Cordula gab der
Servierkraft ein Zeichen, »aber ich glaube nach wie vor an eine gerechtere
Welt. Und die schaffen wir nicht, wenn Berlin von russischen Panzern
abgeriegelt wird. Wenn man versucht, mit Gewalt das Rad der Geschichte
zurückzudrehen. Ich muss wissen, was General Njasow von Ihnen will!«
»Zahl’n?«
Die sehr hübsche studentische Serviererin stand am Tisch und guckte fragend.
»Gern.«
Cordula zückte ihre Geldbörse.
»Zusammen?«
»Ja.«
Meyer
knurrte etwas wie ein Dankeschön und dass er sich demnächst revanchieren werde.
Es war ihm peinlich, von Frauen eingeladen zu werden. Aber er hatte gerade mal
einen Zehnmarkschein in seinem Portemonnaie. Das reichte maximal für ein
Tagesticket der BVG und einen Imbiss.
»Zweiundzwanzichfuffzich«,
meldete die Servierkraft.
Cordula
nestelte einen Zwanziger aus ihrer Börse und gab einen Fünfer dazu.
»Stimmt
so.«
Sie
wartete, bis sich die Serviererin dankend entfernt hatte. Dann nahm sie einen
Kugelschreiber aus ihrer Handtasche, um etwas auf eine Serviette zu schreiben.
»Rufen Sie
mich an, wenn Sie beim General waren!« Sie schob die Serviette Meyer zu. »Um
unserer gemeinsamen Sache willen. Bis später!«
»Bis
später«, echote Meyer und sah ihr lange nach.
2 AM BAHNHOF ZOO, nur ein paar Fußminuten von der
Filmbühne entfernt, kaufte er sich eine Zeitung, die er, während er auf dem S-Bahn-Steig
auf seinen Zug nach Mitte wartete, beiläufig durchblätterte. Alles normal,
keine besondere Nachrichtenlage. Am Vortag war von Bundesinnenminister Schäuble
der aktuelle Verfassungsschutzbericht vorgestellt worden, der eine steigende
Gewaltbereitschaft in der Neonaziszene registrierte. Die Deutsche Bundesbank
hatte die Diskont- und Lombardsätze auf den höchsten Stand seit 1983 angehoben.
Ziel sei die Bekämpfung der Inflation.
Ansonsten
bestimmte das
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