Kreuzberg
war
zufrieden. Er hatte lange nicht mehr so gut gefrühstückt. Wenn nur die
drückende Hitze nicht wäre. Er schwitzte wie ein Schwein.
»Sie
sollten sich sommerlicher kleiden«, die Frau bestellte zwei Eiskaffee, »sonst
zerfließen Sie mir noch.«
»Cordula!«
Jetzt hatte er’s. Meyer zog sein Sakko aus und schob die Ärmel seines
Rollkragenpullovers hoch. »Deckname Cordula, richtig? Hauptabteilung zwo.«
»Sieht man
mir das an der Nase an?«
»Die Augen,
Cordula, die Augen.« Meyer grinste. »Die Augen bleiben immer gleich. Wir hatten
’85 mal miteinander zu tun. Die Affäre Johanna Olbrich , erinnern Sie sich?«
»Besser
nicht.« Cordula winkte ab.
»Ihr Haar
war anders. Länger, glaube ich. Und waren Sie damals nicht auch blond?«
»Ich war
vor allem etwas jünger.« Sie lachte.
»Sechs
Jahre«, präzisierte Meyer.
»Ja«, sagte
sie nachdenklich, »sechs Jahre.«
»Gut.«
Meyer tupfte sich mit einer Serviette die Stirn trocken. »Jetzt, wo ich weiß,
mit wem ich es zu tun habe, können wir auch reden.«
»Schießen
Sie los!«
»Moment
noch! Für wen arbeiten Sie?«
»Immer noch
für denselben Verein.«
»Den gibt’s
nicht mehr«, stellte Meyer fest. »Sie haben die Seiten gewechselt.«
»Hätte ich
eine Alternative gehabt?« Sie schüttelte unmerklich den Kopf. »Es gibt keine
zwei Seiten mehr.«
»Das muss
nicht so bleiben.«
»Treffen
Sie sich deshalb mit Njasow?«
Meyer
wartete, bis die studentische Servierkraft die beiden Eiskaffee auf den Tisch
gestellt hatte, nahm sich dann die zwei Gläser und presste sie sich zur
Abkühlung links und rechts an die schweißnassen Schläfen.
»Es gibt in
dieser Stadt Menschen«, sagte er in dieser Haltung, »die würden Ihr Verhalten,
liebe Cordula, durchaus als Verrat bezeichnen. Wir kommen beide aus demselben
Stall«, setzte er schärfer hinzu, »Sie sollten wissen, dass unsereins nicht mit
Verrätern paktiert!«
»Kalte
Kriegsrhetorik«, winkte Cordula ab. »Die Zeiten haben sich geändert, Meyer.«
»Nicht für
mich. Das Thema Klassenkampf ist akuter denn je.« Er setzte die Gläser ab und
packte Cordula am Arm. »Verdammt noch mal«, zischte er eindringlich, »haben Sie
vergessen, wofür wir stehen? Mehr Gerechtigkeit! Die Abschaffung der Ausbeutung
des Menschen durch den Menschen! Sozialismus!«
»Sie
kämpfen auf verlorenem Posten, Meyer.«
»Kaum.« Er
ließ sie wieder los. »Sonst würden Sie sich nicht so sehr für mein Gespräch mit
General Njasow interessieren.«
»Was die
Russen vorhaben, ist Wahnsinn.«
»So?«
Meyers Augen blitzten hinter der Brille. »Was haben sie denn vor?«
Cordula
seufzte und nippte an ihrem Eiskaffee. »Sie sollten zweigleisig fahren, Meyer.
Es ist nicht gesagt, dass der Plan aufgeht.«
»Welcher
Plan?«
»Tun Sie
doch nicht so ahnungslos.«
Meyer besah
sich die Leute an den Tischen ringsum. Junge Menschen vor allem: Mädchen in
knappen Röcken und Shorts und Jungs in karierten Bermudas, die alle Kette
rauchten und sich über irgendwelche Projekte unterhielten.
Vermutlich
Studenten, dachte Meyer. Die Hochschule der Künste lag schräg gegenüber an der
Hardenbergstraße. Und auch die Technische Universität. Aber waren jetzt nicht
Semesterferien?
Ein hagerer
junger Mann fiel auf, weil er lange Koteletten trug, wie sie längst aus der
Mode waren, und mit seltsam hoher Stimme verkündete, dass er das Motto der
diesjährigen Loveparade besonders gelungen finde: »My
house is your house and your house is mine.«
Interessant
fand Meyer das, auch wenn er nicht wusste, wovon der junge Mann genau sprach.
Eine Liebesparade? Was sollte das sein? Mein Haus ist
dein Haus und dein Haus gehört mir. Mhm. Das passte immerhin. Vielleicht hatte diese Cordula ganz
recht. Vielleicht sollte er wirklich zweigleisig fahren.
Der
Sozialismus war nicht tot, das Motto der Loveparade verriet es, und insgeheim
hielt auch Meyer von den Plänen der Russen nicht all zu viel. Das roch zu sehr
nach Gewalt und Unterdrückung, auch wenn sich einige Genossen in Berlin sehr
viel davon erhofften. Letztlich würde man der gerechten Sache schaden. Die Welt
würde aufschreien, und wer konnte schon garantieren, dass das Vorhaben der
Sowjets, selbst wenn sie in Moskau Erfolg hätten, in Berlin Auswirkungen haben
würde? – Niemand. Marxisten und Leninisten stünden erneut als
stalinistische Freiheitsunterdrücker da, die mit Gewalt den Menschen ihren
Willen aufzwingen wollten. Andererseits musste in Moskau etwas passieren, so
jedenfalls
Weitere Kostenlose Bücher