Kreuzweg
wunderten uns, warum wir keine Essstäbchen dazu serviert bekamen. Warum erinnert man sich bloß bis in alle Ewigkeit an solche Details?
Eine Woche lang hatte ich kaum einen Bissen heruntergebracht. Der Brathähnchengeruch löste bei mir an jenem Abend zum ersten Mal wieder ein Hungergefühl aus. Ich leerte den ganzen Teller und fühlte mich wieder gestärkt. Abends nahm ich mit einem Notizblock an meinem winzigen Tisch Platz.
Liebste Mama,
ich muss Dir etwas erzählen.
Liebe Mama,
sei bitte nicht böse mit mir. Ich muss Dir etwas erzählen, das Du vielleicht nicht glauben willst. Aber es ist trotzdem wahr, und ich kann es nicht länger für mich behalten.
Chère maman
,
wie Du weißt, möchte ich unheimlich gerne in Paris oder jedenfalls im Ausland studieren. Ich fühle mich hier sehr wohl und bin dankbar, dass Ihr mich ins Internat habt gehenlassen, aber ich muss Dir etwas gestehen. Es gibt noch einen anderen Grund, weshalb ich so weit weg von daheim ins Pensionat wollte.
Mama,
noch nie ist mir etwas so schwergefallen, aber es muss sein. Falls Du wirklich nichts davon gewusst hast, wirst Du gleich sehr traurig werden. Falls aber schon, was ich nicht zu glauben wage, weiß ich überhaupt nicht mehr, wie es weitergehen soll.
Liebe, liebe Mama,
es tut mir ja so schrecklich leid, aber glaub mir bitte: Es ist nicht meine Schuld! Ich will das nicht, aber ich weiß nicht, wie ich es aufhalten kann.
Einleitungen genug, doch die folgenden Sätze kamen nicht. Ich konnte es einfach nicht zu Papier bringen, mein Geheimnis aber auch nicht länger für mich behalten. Aus den Notizblättern machte ich kleine Schnipsel, die ich in meiner Jackentasche verstaute. Während des Ausflugs am Mittwochnachmittag würde ich sie in einem öffentlichen Abfalleimer verschwinden lassen. Keine Spuren der Verzweiflung in meiner Kammer. Gerade auf dem Bett sitzend, genehmigte ich mir noch ein paar Ostereier, die ich von Oma Gleis bekommen hatte. Fieberhaft dachte ich nach, während die Schokolade auf meiner Zunge zerschmolz: Wie konnte ich meiner Mutter bloß etwas klarmachen, wofür ich selbst keine Worte hatte? Und was,wenn sie mir nicht glaubte? Die lähmende Furcht, sie würde mich vielleicht als Zimperliese bezeichnen, grenzte doch ziemlich an meine Furcht vor den Dienstagabenden daheim. Vielleicht sollte ich es ihr doch besser sagen, statt zu schreiben.
Es muss schon nach Mitternacht gewesen sein, als ich – noch immer hellwach – das Schlurfen der Nachtschwester auf ihrer Runde hörte. «
Ma sœur
», flüsterte ich, einem Impuls folgend. Sofort bewegte sich der Vorhang. Schwester Bénédicte bog den Kopf zu mir herunter. Ihr langer weißer Bademantel schien irgendwie zu leuchten, weshalb sie wie ein Engel aussah. «
Oui, petite
? Bist du krank?»
War es ihr süßer Maiglöckchenduft oder ihre tröstende Stimme, die mich in Tränen ausbrechen ließ? Sie erkundigte sich, ob ich etwa Heimweh habe, aber ich schüttelte heftig den Kopf. «Ich will mit Ihnen reden», flüsterte ich. Plötzlich wusste ich genau, dass sie mich verstehen würde, selbst wenn ich nicht die richtigen Worte fände.
Am nächsten Abend dürfe ich zu ihr kommen, versprach sie. Sie würde mir zuhören und gemeinsam würden wir nach einer Lösung suchen. Es gäbe kein Problem, für das es nicht auch eine Lösung gäbe. Aber jetzt müsse ich schlafen. Sie zog das Betttuch glatt und pflückte ein rotes Silberpapierknöllchen von meinem Kopfkissen.
«
Méchante fille
», sagte sie kopfschüttelnd, was aber nicht böse klang.
Am nächsten Abend führten Schwester Bénédicte und ich dann tatsächlich ein zu Herzen gehendes Gespräch. Wenngleich es vollkommen anders war, als ich es mir ausgemalt hatte, denn sie war diejenige, die ihre Worte genau wählte, und ich die Zuhörerin. Niemals, wirklich niemals hätte ich mir vorstellen können, dass es etwas noch Schrecklicheres gab als mein Geheimnis, das ich ihr hatte anvertrauen wollen. Trotzdem gab es das. Ich bekam die Zähne nicht auseinander, meine Stimmbänder waren wie gelähmt. Meine Eierschale bekam überall Risse. Sie wurden nie gekittet.
DRITTE STATION:
J. fällt zum ersten Mal unter dem Kreuz.
Am Mittwochnachmittag machten wir mit der ganzen Klasse einen langen Waldspaziergang.
Mens sana in corpore sano
, ein gesunder Geist in einem gesunden Körper, ein Credo des Internats. Laubbäume, Kiefern, Dickicht, vorbeifliegende Wolken, gefiederte Freunde und herumkrabbelndes Ungeziefer. Biologie
en plein air
.
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