Wer sagt, dass Kinder gluecklich machen
Eltern werden ist nicht schwer, Eltern sein dagegen sehr
Moskau. Eine kleine Zweizimmerwohnung. Ich (Eva Gerberding) interviewe gerade die Gulag-Überlebende Irina W. für eine arte -Dokumentation. Die über Achtzigjährige erzählt Schreckliches über ihre Zeit im Straflager. Plötzlich geht eine Tür auf, ein grauhaariger Mann im Pyjama schlurft grußlos an uns vorbei. »Wer ist das?«, frage ich. Die alte Russin seufzt tief. »Das ist mein Sohn Fjodor«, sagt sie. »Seine zweite Frau hat ihn gerade rausgeschmissen und weil er arbeitslos ist und säuft, hat er kein Geld. Deshalb ist er wieder bei mir eingezogen.«
Okay, wir sind nicht in Russland und dieser Fall ist sicherlich extrem. Aber was ihn für uns interessant machte, ist die Frage, die er aufwirft: Wer sagt eigentlich, dass Kinder (immer) glücklich machen?
Niemand. Trotzdem lieben wir unsere Kinder. Sehr sogar. Mehr als alles auf der Welt. Als sie Babys waren, standen wir nachts an ihren Betten, aus Angst, sie würden aufhören zu atmen. Später, als Teenies, ertrugen wir ihre schlechte Laune, vermüllte Kinderzimmer und das Wissen, dass sie uns oft auf den Mond wünschten. Wir sie übrigens auch. Während der Pubertät hatten wir oft das Gefühl, nur als »Portemonnaie auf zwei Beinen« geschätzt zu werden. Und heute sind wir froh, wenn sie uns nur halb so oft sehen wollen wie wir sie.
Jedes Stadium ist unterschiedlich, jedes hat unfassbar schöne Seiten, aber auch viele, die unserer Magenschleimhaut und unserer Seele weniger guttun. Ja, der Gedanke überfällt uns manchmal: Ginge es mir ohne Kinder nicht viel besser? Das darf man höchstens denken, es auszusprechen, ist natürlich bei Todesstrafe verboten. Eines der letzten Tabus. Warum eigentlich? Wir wagen die Behauptung, dass die meisten Eltern Momente der restlosen Überforderung und Verärgerung genauso gut kennen wie Momente, in denen ihnen beim Anblick ihrer Kinder das Herz stehen bleibt vor Stolz und Liebe. Beides gehört zum Elternsein, beides ist völlig normal.
Mütter wie Väter sind heute enormem Druck ausgesetzt: Es wird eine perfekte Erziehung der Kinder erwartet, geistig intellektuelle wie emotionale Bildung ist gefragt, damit die Kinder zu den Leistungsträgern der Zukunft werden können. Glücklich, sportlich, klug und erfolgreich sollen die Kinder sein. An diesem Ziel wird gemessen, ob Mutter und Vater es richtig gemacht haben, ob sie gute oder Rabeneltern sind. »Am Ende des Lebens ist nicht entscheidend, wie viel wir beruflich geleistet haben«, sagte Jackie Onassis einmal, »sondern ob wir ein gutes Verhältnis zu unseren Kindern hatten. Wenn nämlich nicht, ist der Rest unwichtig.« Sind also immer die Eltern schuld?
Seien wir doch einmal ehrlich: Erziehungsarbeit ist Schwerstarbeit. Sie erfordert Kraft, Ausdauer, Verzicht, Frustrationsfähigkeit, Leidenschaft, Aufmerksamkeit, Präsenz, Konsequenz und vieles, vieles mehr. Und das alles ohne Ausbildung und Erziehungsführerschein. Und niemand lobt einen dafür, niemand sagt: »Also, wie du deine Kinder erzogen hast – Hut ab!« Und vor allem sagt einem niemand, dass es nie aufhört.
Ja, es stimmt: Eltern werden, ist nicht schwer, Eltern sein dagegen sehr! Deshalb will dieses Buch Ratgeber und Trostschrift zugleich sein, auf jeden Fall ein verständnis- und
humorvoller Begleiter. Es möchte Müttern und Vätern zeigen, wie sie sich selbst, den Partner und letztendlich auch ihre Kinder durch unrealistische Glückserwartungen belasten und überfordern. Wir, zwei Mütter, die mit ihren eigenen Kindern durch Himmel und manchmal Hölle gegangen sind, sprechen aus und lassen von anderen betroffenen Eltern erzählen, was immer noch ein großes Tabu ist. Nämlich dass Elternsein das größte vorstellbare Glück, aber auch der größte vorstellbare Stress sein kann. Und manchmal auch das größte vorstellbare Unglück. Wir berichten von Pleiten, Pech und Pannen im Erziehungsalltag. Fühlen wir uns alle nicht gleich viel besser, wenn wir davon lesen und feststellen, dass wir damit nicht allein sind? Plötzlich erscheint das eigene Kind nicht mehr so problematisch. Und alles relativiert sich wieder.
Ihre
Eva Gerberding und Evelyn Holst
»Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne« – Schwangerschaftsfantasien
»Warum zeugt man ein Kind? Aus Liebe, aus Langeweile und aus Angst vor dem Tod. Die drei wesentlichen Bestandteile des Lebens. Kinderzeugen ist allgemein verständlich, und doch kennen nur wenige Eltern die Wahrheit: Es
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