Kreuzweg
in meinen Fingerspitzen gespeichert.
EPILOG
Am Karfreitag treiben mich die Erinnerungen zum Bahnhof. Sie überfallen mich, während ich auf dem mittleren der drei Stahlstühle auf dem Bahnsteig sitze, doch ich erlaube ihnen nicht, von mir Besitz zu ergreifen. Bevor sie sich in mir niederlassen, lasse ich sie auf einer flaumigen Wolke wieder forttreiben. Meinem unbekannten Sohn hinterher.
Der Bahnhofsvorsteher geht mit einer Kuchenschachtel in der Hand an mir vorbei. Er blickt mich erst forschend an, dann lädt er mich auf ein Stück Torte ein – um seinen letzten Arbeitstag zu feiern. Er könne glatt ein Buch darüber schreiben, was er während seiner Laufbahn alles erlebt habe, meint er mit einem Kaffeebecher in der Hand. Ich traue mich nicht, ihn zu fragen, ob er vielleicht wisse, was aus dem Kind geworden sei, das er vor dreiunddreißig Jahren auf der Holzbank gefunden hatte. Stattdessen starre ich auf seinen grauen borstigen Schnurrbart, in dem ein bisschen Sahne hängen geblieben ist, und schweige.
Wir haben uns einander nicht vorgestellt, aber ich weiß, dass er Theo Jespers ist. Ein beruhigender Gedanke.
Ein paar Tage später, genauer gesagt am Ostermontag, entdecke ich tief hinten in meinem Schrank das Tagebuch wieder, das mir meine Mutter gegeben hatte, kurz vor meinem Eintritt ins Mädcheninternat der Jungfrau Maria.Nur ein paar Seiten davon sind beschrieben, in ordentlicher Mädchenhandschrift. Nun ist es an der Zeit, meinen geheimen Kreuzweg dem Papier anzuvertrauen. Während mein Vater unten in einem von der Krankenkasse gelieferten Bett ein Altherrennickerchen macht, schreibe ich alles wie eine Besessene nieder. Eine Stunde nach der anderen. Die Tür einen Spaltbreit geöffnet, der Riegel schimmert nutzlos. Er ist jetzt nicht mehr in der Lage, die Treppen hochzusteigen. Da ist nichts, wovor ich mich fürchten müsste.
Sein dünnes Stimmchen schwebt wie eine träge Eintagsfliege in der Abenddämmerung, deren Zeit fast abgelaufen ist, in mein Zimmer hinein. Ich höre meinen Namen – «Judith, Judith» –, lege den Stift beiseite und gehe hinunter. Vielleicht braucht er mich ja.
1. Auflage. 2012
Für die deutsche Ausgabe:
© Verlag C.H.Beck oHG, München 2012
Umschlaggestaltung: Simone Ackermann, Zürich
Umschlagabbildung: Simone Ackermann, Zürich
ISBN Buch 978 3 406 63941 8
ISBN eBook 978 3 406 63942 5
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