Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
nichts Ungewöhnliches wahr, das Leben scheint seinen normalen Gang zu gehen. Wo ist die Revolution? Bin ich zu spät gekommen? Meine Befürchtungen scheinen sich zu bestätigen. Die Ägypter gehen in Scharen auf die Straße, wenn es um einen äußeren Feind geht, aber eben nicht für die eigene Sache. Bisher haben in Ägypten, vor allem in Kairo, immer dieselben linken Intellektuellen gegen die Herrschaft von Mubarak oder die Muslimbrüder gegen die Inhaftierung ihrer Führungskräfte demonstriert. Mehr als 200, 400 Leute waren eigentlich selten auf der Straße. Zu großen Demonstrationen kam es in Ägypten nur, wenn es um Proteste gegen den Westen ging. Zum Beispiel, nachdem die Ägypterin Marwa El-Sherbini im Sommer 2009 von einem verrückten Russlanddeutschen in Dresden ermordet worden war. Und natürlich gab es gewaltige Demonstrationen gegen die Mohamed-Karikaturen. Aber vorgestern sollen mehr als 20 000 Demonstranten auf dem Tahrir-Platz gewesen sein. Wo sind sie heute? Meine Landsleute haben einfach keinen langen Atem, denke ich. Doch abends treffen Nachrichten aus der Hafenstadt Suez ein. Dort soll es zu Großdemonstrationen und zahlreichen Todesopfern gekommen sein. Morgen ist der »Freitag des Zorns«. Vielleicht wagen sich wieder ein paar tausend in Kairo auf die Straße.
Freitag, der 28. Januar 2011
Ich wohne in einem netten Hotel in der Innenstadt von Kairo. Nachmittags wollen sich die Demonstranten alle auf dem zentralen Tahrir-Platz treffen. Der Ort wird seit Tagen über Twitter und Facebook gepostet – das hat sich auch auf den Straßen herumgesprochen, wie ich zwischenzeitlich bemerkt habe. Das Internet spielt in diesen Tagen eine große Rolle, immerhin 20 Prozent der Ägypter haben Zugang zum Netz, die anderen werden mündlich informiert. Doch seit gestern Abend funktioniert das Internet nicht mehr.
Wir sehen uns schon am Vormittag den Tahrir-Platz an, bevor er von den Sicherheitskräften abgeriegelt wird. Wir, das ist eine Gruppe von ägyptischen Dichtern, Schriftstellern und Intellektuellen, die ich auf meinen Lesungen kennengelernt habe. Schon unterwegs fallen uns die vielen Sicherheitsleute und Polizeifahrzeuge auf. Ich habe noch nie so viele Polizisten auf einem Haufen gesehen. Mitten in diesem uniformierten Getümmel fällt mein Blick auf einen Polizeioffizier, der seine Truppe auf den Einsatz vorbereitet. Er will sie aufmuntern. Die Art und Weise, wie er redet, erinnert mich an den Ton, den ich in der Muslimbrüderschaft in meiner Jugend erlebt habe. »Keine Angst. Es kann sein, dass wir auf viele Demonstranten treffen werden. Aber Allah sagt im Koran: Es kommt oft vor, dass eine kleine Gruppe eine große Gruppe besiegt.«
Da wird mir klar, dass ich gerade Zeuge einer Zeitenwende werde. Die Polizei sieht sich als Minderheit! Sie hat Angst vor den Massen. Das habe ich vorher nie erlebt. Die meisten Sicherheitssoldaten stammen aus dem Süden Ägyptens oder aus dem ländlichen Nildelta. Meist sind es Söhne aus Bauernfamilien, die nicht viel von der Welt wissen. Sie sind ungebildet und naiv, nur für die Unterdrückung von Unruhen und Demonstrationen ausgebildet. Die Polizei verpasst ihnen eine Gehirnwäsche. Wenn sie den Befehl bekommen zu prügeln, dann prügeln sie eben und gehen davon aus, dass sie gegen die Feinde der Heimat kämpfen.
Ein verbreiteter Witz über die Rekrutierungsmethode der Polizei geht so: Wenn man die Soldaten in einem Dorf einzieht, versammelt man alle jungen Männer auf dem Platz. Der Offizier sagt: Wer schreiben und lesen kann, soll nach links gehen, wer es nicht kann, nach rechts. Wer in der Mitte stehen bleibt, wer also die Frage nicht verstanden hat, wird Sicherheitssoldat.
Andere Soldaten, die einer anderen Einheit angehörten, stehen abseits und frühstücken. Ich begrüßte sie mit den Worten »Friede sei mit euch«, eine Gewohnheit aus meiner Studentenzeit in Kairo, als ich selbst ein ortsfremder Student aus der Provinz war. Mir taten sie immer leid, als ich sie vor offiziellen Gebäuden sah, wo sie stundenlang in der sengenden Hitze oder nachts in der Kälte wie Statuen standen. Kaum jemand nahm sie wahr, kaum jemand unterhielt sich mit ihnen. Immer begrüßte ich sie, und immer grüßten sie freundlich zurück. Auch die, die sich am Tahrir-Platz auf den Einsatz vorbereiten, erwidern meinen Gruß freundlich. Sie ahnen nicht, dass ich in wenigen Stunden zu den Feinden der Heimat gehöre, die sie verprügeln müssen.
Wir haben uns auf diesen Tag
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