Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
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Als die Welt sich veränderte
W as kann ich über die arabische Revolution schreiben?
Was kann jemand, der von einem Tsunami überrollt wurde, über die Natur der Flut, ihre Entstehung und ihre Folgen schreiben? Wenn ich davon berichte, was ich in Ägypten, Marokko und anderen islamischen Ländern gesehen und erlebt habe, was ich gehört, erfahren, recherchiert habe, so kommt mir meine Schilderung bisweilen vor wie eine riesige Menge von Mosaiksteinen, die sich noch nicht zu einem lückenlosen Bild zusammenfügen lassen.
Weil wir das Wesen auch dieser arabischen Revolution so schnell wie möglich begreifen wollen, neigen wir dazu, sie mit anderen Revolutionen zu vergleichen. Ist sie die Revolution der Hungrigen gegen die dekadenten Monarchen wie die Französische Revolution? Ist sie eine Kettenreaktion bürgerlicher und nationaler Aufstände wie der europäische Frühling von 1848? Ist sie die verspätete 68er-Bewegung gegen die Generation der Väter? Ist sie vielleicht eine arabische Version der iranischen Revolution von 1979? Kommt zunächst der Ruf nach Freiheit, und dann greifen die bärtigen Islamisten nach der Macht? Oder sind die Aufstände des Jahres 2011 eher mit den Umbrüchen in Ost-Mittel- und Osteuropa zwischen 1989 und 1991 zu vergleichen? Und wenn schon, mit welchem 1989 vergleichen wir: mit der demokratischen Transformation in Osteuropa oder mit der Stagnation und der Rückkehr der Diktatur im neuen Gewand in den ehemaligen zentralasiatischen sowjetischen Republiken nach dem Zusammenbruch des Kommunismus? Aus meiner Sicht ist die arabische Revolution eine Mischung aus all diesen Revolutionen und zugleich anders als jede von ihnen. Auch davon handelt dieses Buch.
Als meine Maschine Ende Januar 2011 Richtung Kairo abhob, war die Maschine meiner Frau längst in Osaka gelandet. Keiner von uns beiden konnte zu diesem Zeitpunkt ahnen, dass wir bald Zeugen zweier gewaltiger Erschütterungen sein würden, die nicht nur unsere beiden Heimatländer, sondern die ganze Welt erzittern lassen würden. Wenige Stunden nach meiner Ankunft in Kairo am 27. Januar hat das Regime Mubaraks aus Angst vor Großdemonstrationen alle Internet- und Mobilfunkverbindungen gekappt. Es schien, als wollte der Diktator sein Volk als Geisel nehmen. In den Tagen danach versuchte meine Frau vergeblich, mich zu erreichen. Sie war immer in Angst um mich, gleichgültig wann ich nach Kairo flog, denn sie wusste, dass meine kritischen Bücher, die auch auf Arabisch erhältlich sind, über den Islam und über das Regime Mubaraks mich dort in Schwierigkeiten bringen könnten.
Tagelang demonstrierten wir auf dem Tahrir-Platz gegen Mubarak und sein Regime. Am 11. Februar wurde unser Kampf für Freiheit mit dem Abdanken des Pharaos gekrönt, und ganz Ägypten befand sich im Freudentaumel. Genau einen Monat später, am 11. März, war ich wieder in Kairo, und meine Frau war immer noch in Japan. An diesem Tag schockte das größte Erdbeben der jüngeren Geschichte die Insel, es folgten unmittelbar ein gewaltiger Tsunami und die Atomkatastrophe von Fukushima. Nun war ich es, der vergeblich versuchte, den anderen zu erreichen. Telefonleitungen und Internetverbindungen waren in Japan ausgefallen. Meine ägyptischen Eltern pflegten mich und meine Frau immer vor einem längeren Aufenthalt in Japan zu warnen. Zu gefährlich sei das Land wegen der vielen Erdbeben.
Zwei Wochen später, meine Frau und ich waren heil in Deutschland eingetroffen, erlebten wir hier den Wahlsieg der Grünen in Baden-Württemberg, der das alte bundesrepublikanische Parteiengefüge nicht weniger erschütterte als das Erdbeben Japan. Seither frage ich mich, was die Ereignisse von Kairo, Fukushima und Stuttgart gemeinsam haben. Was sind die Themen, die diese extrem unterschiedlichen Orte verbinden? Sind es Energie, Kommunikation, Informationspolitik, Freiheit und Zukunftsängste?
Wir leben in einer Zeit, in der die globale Tektonik in Bewegung ist. Gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Erschütterungen auf allen Kontinenten. Wir kommen kaum nach mit unserer zerstreuten, meist von Besorgnis geprägten Aufmerksamkeit. Was wir wahrnehmen, ist oft nur der Bruchteil eines Ereignisses, bevor wir uns bald einer anderen dramatischen Szene in einer anderen Region der Welt zuwenden. Das Jahr 2011 wird ohne Zweifel als eines der ereignisreichsten in die jüngere Geschichte eingehen, ähnlich wie die Jahre 1968 und 1989. Aber zum ersten Mal stehen nicht Europa oder
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