Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
Bewusstsein besaßen. Meist drehte sich der Austausch um die Frage, wie am besten gegen die Willkür der Polizei zu protestieren sei. Manche schlugen vor, auf Banknoten »Nein zu Folter« zu schreiben, damit die Botschaft mehr Menschen erreichen könnte. Andere wollten an Polizisten Facebook-Meldungen senden, um sie zu einem gewaltlosen Umgang mit Zivilisten aufzufordern. Der Administrator, der sich offensichtlich in allen Internettricks auskennt, machte 200 Accounts von ägyptischen Polizisten ausfindig und stellte sie den Hunderttausenden Mitgliedern der Seite zur Verfügung. In der Folge entwickelte sich eine üble Schlammschlacht im Netz mit Beschimpfungen und Drohungen.
Auch die Form der früheren Demonstrationen, worauf sich die Teilnehmer der Seite verständigten, mutete mich seltsam an. Junge Frauen und Männer trugen einheitlich schwarze T-Shirts, hielten einen Koran und eine Bibel in der Hand und stellten sich nebeneinander an der Promenade in Alexandria auf, das Gesicht dem Mittelmeer, den Rücken der Straße zugewandt, ohne Plakate und ohne zu sagen, wogegen sie demonstrierten oder wofür sie standen. Es sind nur ein paar Teenager, die sich im Netz ihre Zeit vertreiben, dachte ich. Ein großer Irrtum, wie sich später herausstellte. Die Proteste galten immer nur der Gewalt der Polizei, es ging nicht um die Wahlfälschung, nicht um die korrupte Nationalpartei, nicht um Mubaraks Alleinherrschaft und seine Pläne, seinem Sohn die Macht zu übergeben. Der Betreiber der Seite öffnete sie keinem anderen Thema außer dem der Polizei – eine kluge Taktik?
Um den mysteriösen Satz, »Die Antwort lautet Tunesien«, zu verstehen, besuchte ich die Seite von Khalid Said und erfuhr dort von den Demonstrationen in Tunesien, die durch die Selbstverbrennung eines jungen Gemüsehändlers namens Bouazizi entfesselt worden waren. Die ägyptische Internetgemeinde zog Vergleiche zwischen der Geschichte von Bouazizi und der von Khalid Said und diskutierte mit zunehmendem Engagement die Frage, warum es eine Revolution in Tunesien, aber keine in Ägypten gebe, obwohl am Nil die herrschende Ungerechtigkeit und die Willkür der Polizei gravierender seien. Die gleiche Diskussion war bereits vor anderthalb Jahren geführt worden, als im Iran die grüne Revolution gegen Ahmadinedschad ausgebrochen war. Auch ich habe damals in einer ägyptischen Zeitung einen Artikel veröffentlicht mit dem Titel »Warum gibt es eine Revolution in Iran, aber keine in Ägypten?«. Die Antwort auf diese Frage kannte fast jeder in meinem Heimatland. Die Ägypter sind viel zu herrschaftstreu und viel zu geduldig, oder wie es ein Charakter aus einem modernen ägyptischen Film schön beschrieb: Die gesamte ägyptische Bevölkerung hält sich an der Hand der Regierung fest, wie sich ein kleines Kind an der Hand seiner Mutter festhält, auch wenn diese Mutter unmoralisch ist.
Anders als in Tunesien konnte in Ägypten jeder die Regierung und gelegentlich sogar Mubarak selbst in den Medien kritisieren. Korruption und Ungerechtigkeit waren in den letzten Jahren die beliebtesten Themen in den Medien, aber die Thematisierung dieser Probleme führte eigentlich zu keiner sichtbaren Veränderung der politischen und sozialen Realität. Mubarak und sein Regime ließen die Kritik als Ventil für die frustrierte Bevölkerung zu, getreu dem auch in Deutschland bekannten Motto: Die Hunde bellen, doch die Karawane zieht weiter. Beide, Herrscher und Untertanen, gingen davon aus, dass die Ägypter niemals aufstehen würden, ganz gleich, was passierte. Dies führte dazu, dass die regierende Nationalpartei die Parlamentswahlen im November 2010 in einer offensichtlichen und dreisten Art und Weise fälschte und sich mehr als 95 Prozent aller Sitze sicherte. Wahlfälschung sei nicht die geeignete Bezeichnung dafür, meinte Ägyptens berühmtester Schriftsteller Alaa Al-Aswani, denn Fälschung ist eine Kunst, eine kluge Täuschung, aber das, was geschah, war ein bewaffneter Diebstahl gewesen, den jeder hatte sehen können. Oppositionelle waren durch Schlägerbanden der Nationalpartei daran gehindert worden, zu den Wahllokalen zu gelangen, andere Wahllokale waren in Brand gesetzt worden, und Beamte hatten die Wahlzettel vor laufender Kamera zugunsten der regierenden Partei ausgefüllt. Danach schien es, als sei es das Schicksal Ägyptens, dass die Sphinx über die Wüste herrschte und die Mubarak-Dynastie über den Nil.
Doch die Umwälzungen in Tunesien haben all denen von uns,
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