Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
Demonstranten, die viel schwerer verletzt sind als ich. Ein junger Kerl wurde dreimal von einem Gummigeschoss am Kopf getroffen. Er blutet. Nachdem er verbunden worden ist, rennt er wieder los, als sei er süchtig nach Straßenkampf. So groß ist die Wut auf das Regime. So groß ist der Mut. Eine junge Demonstrantin schleppt sogar einen verletzten Sicherheitspolizisten in die Wohnung und verarztet ihn. Sie weint bitter, als er vor Schmerzen schreit. Er war ohne Gasmaske unterwegs, diese sind Offizieren vorbehalten. Die junge Frau heißt Heba. Sie weine, weil sie selbst einer Polizistenfamilie entstammt. Ihr Vater und ihr Bruder sind Polizisten. In dem verletzten Soldaten sieht sie den eigenen Bruder, der vermutlich woanders in Kairo auf Demonstranten einprügelt, weil er den Befehl dazu bekam.
Ich beiße die Zähne zusammen und kehre mit anderen auf die Straße zurück. Je mehr wir werden, je lauter wir skandieren »Das Volk will das Regime stürzen«, desto heftiger werden wir beschossen. Fast eine Stunde bleiben wir zwischen zwei Polizeieinheiten in einer Nebenstraße des Tahrir-Platzes eingekesselt. Es ist die Huda-Sha’rawi-Straße, benannt nach der Frau, die auf dem Tahrir-Platz vor fast 90 Jahren Geschichte schrieb, als sie ihren Schleier vom Kopf riss und zur Befreiung Ägyptens sowohl von der britischen als auch von der osmanischen Herrschaft aufrief. Der Tahrir-Platz, der Platz der Befreiung, hat seinen Namen diesem Ereignis zu verdanken. Der Rauch dringt in unsere Lungen, einige von uns bekommen kaum noch Luft und verlieren kurzfristig das Bewusstsein, aber wir geben nicht auf. Auch ich ersticke fast, doch der von allen Seiten skandierte Slogan »Das Volk will das Regime stürzen« gibt mir Kraft und hält mich auf den Beinen. Es ist fast ein mythologisches Erlebnis. Vor allem die Solidarität der Frauen, die in der Umgebung wohnen, rührt mich. Viele stehen auf ihren Balkonen, schwenken die ägyptische Flagge und werfen den Demonstranten Essigflaschen zu. Die Häuser sind offen. Wer Hilfe braucht, kann überall hineingehen, und ihm wird geholfen.
Wir bekommen Nachschub. Eine Gruppe vermummter junger Männer, die gut organisiert scheinen, stürmt vorbei und ruft uns zu, dass die ersten Barrikaden der Polizei überwunden seien. Sie wollen nun den Tahrir-Platz nehmen. Die Polizeieinheiten, die uns eingekesselt hatten, haben sich in Richtung Tahrir-Platz zurückgezogen. Wir laufen hinter den vermummten Männern her. Zunächst denke ich, sie gehören der Muslimbruderschaft an. Nur dort findet man so junge und gut organisierte Truppen. Wieder hagelt es Gummigeschosse und Tränengasgranaten, aber die Gruppe Vermummter ist darauf vorbereitet. Sie haben feuchte Tücher dabei, mit denen sie die Rauchbomben aufheben und auf die Polizisten zurückwerfen. Danach laufen sie im Gleichschritt, geschützt von Mülltonnendeckeln und Schilden, die die flüchtenden Polizisten zurückgelassen hatten, auf die nächste Gruppe Uniformierter zu. Diese ziehen sich zurück. Nun sind sie da, die Jugendlichen, die im Netz Revolution spielen. Es sieht wirklich aus wie die Straßenkämpfe auf der Playstation. Wer sind diese Jungen? Sie sind zwischen 16 und 20 Jahre alt. Als sie die Polizisten mehr und mehr in die Enge treiben, ruft ein Demonstrant neben mir: »Es leben die Ultras.« Jetzt erst geht mir ein Licht auf, wer diese Jungs sind. Es sind die Red Devils und die White Knights, die Fußballfans der beiden größten Kairoer Vereine. Diese haben offenbar gelernt aus zahlreichen Konfrontationen mit der Polizei, auf der Straße und im Stadion. Wie mein Bruder haben auch sie lange schon eine offene Rechnung mit dem Staat und sind gekommen, um diese zu begleichen. Überhaupt scheinen alle Demonstranten eine offene Rechnung mit der Polizei zu haben.
Der Platz ist nun offen. Von allen Ecken strömen Demonstranten, und plötzlich sind wir in der Mehrheit. Manche Demonstranten gehen auf die verbliebenen Polizisten los, wollen sie angreifen. Ein älterer Mann ruft: »Es sind auch unsere Kinder, die können nichts dafür.« Weitere Demonstranten rufen »silmiyya, silmiyya!«, friedlich, friedlich!
Die zwangsrekrutierten Polizisten tun mir leid. In ihren Augen sehe ich Angst, Ermüdung und Hilflosigkeit. Am liebsten würde ich sie begrüßen wie heute Morgen, »Friede sei mit euch«. Manche ersticken fast am Tränengas, das ihre maskierten Kollegen weiterhin auf den Platz feuern. Im Gegensatz zu uns wissen die Polizisten jedoch nicht, wie
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