Kristall der Macht
wuchtiger Schlag am Kopf und ließ das Bild vor seinen Augen erlöschen.
* * *
»Maor-Say! Maor-Say!« Die Tür flog auf und prallte so heftig gegen die Wand, dass der farbige Putz abblätterte und helle Flecken zurückblieben.
Das Geräusch riss Noelani aus dem tiefen Erschöpfungsschlaf, in den sie nach der erfolglosen Geistreise der Nacht gefallen war. Verwirrt blickte sie auf und versuchte, die Ursache für den Lärm ausfindig zu machen.
Neben ihrem Bett stand Semirah, ihre Dienerin. Ihr Haar war zerzaust, die Augen vor Furcht und Anspannung weit aufgerissen. Sie atmete schnell und zitterte trotz der Wärme, die die Strahlen der Morgensonne in den Raum trugen. Als sie bemerkte, dass Noelani erwacht war, legte sie die geöffneten Handflächen hastig wie zum Gebet gegeneinander, hob sie zum Zeichen der Ehrerbietung an die Stirn und senkte demütig das Haupt.
»Was fällt dir ein, hier solch eine Unruhe zu veranstalten?« Noelani ärgerte sich, dass Semirah sie geweckt hatte, und machte sich nicht die Mühe, ihren Unmut zu verbergen.
»Verzeih, Maor-Say! Verzeih!« Semirahs Stimme bebte vor Aufregung. »Ich … ich … Es ist …«
»Nun sag schon: Was ist los?«, fragte Noelani eine Spur sanfter. »Wenn man dich so sieht, könnte man meinen …«
»Der Luantar! O ehrwürdige Maor-Say, der Dämon ist erwacht«, rief Semirah mit wildem Blick. Ihre Stimme überschlug sich fast, als sie fortfuhr. »Er … er hat das Dorf angegriffen, als die Sonne aufging … Ich habe es gesehen … Sein Atem hüllt die Küste ein … Es … es ist furchtbar.« Ein Schluchzen drang aus Semirahs Kehle und machte es ihr unmöglich weiterzusprechen. Überwältigt von Kummer und Schmerz schlug sie die Hände vor das Gesicht, sank auf die Knie und krümmte sich schluchzend zusammen.
»Der Dämon? Erwacht?« Noelani runzelte die Stirn. »Aber das ist unmöglich. Ich habe ihn erst gestern …«
»Es ist wahr, Noelani!« Jamak kam durch den Raum auf die beiden Frauen zugeeilt. Mit versteinerter Miene trat er vor Noelanis Bett und sagte: »Gerade sind zwei Bedienstete zurückgekehrt, die an der Klippe nach Möweneiern suchen wollten. Sie sind völlig verängstigt. Auch sie berichten, dass der Luantar über das Meer gekommen sei und das Dorf mit seinem Giftatem angegriffen habe.«
»Nein. Nein. Nein«, Noelani schüttelte nachdrücklich den Kopf, während sie das Wort wie eine Beschwörungsformel flüsternd wiederholte. Ihr war schwindelig. Das Bett, der Raum, ja das ganze Gebäude, alles schien sich um sie zu drehen, während sie verzweifelt versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Hände fest in die bunt gewebte Decke gekrallt, schaute sie zuerst Jamak und dann Semirah an und flüsterte: »Das kann nicht sein.«
Jamak schwieg lange, als müsse er das, was er als Nächstes sagen wollte, erst abwägen. Dann schüttelte er fast unmerklich den Kopf und erwiderte leise: »Aber es ist so.«
Die Worte lösten die Starre, die Noelani ergriffen hatte. Plötzlich hatte sie es eilig. Ohne ein Wort schwang sie die Beine aus dem Bett, griff noch in derselben Bewegung nach ihrem seidenen Morgenmantel und schlüpfte mit bloßen Füßen in die Zehsandalen, die vor ihrem Bett bereitstanden. Mit aufgelöstem Haar, den Mantel nur halb geschlossen, eilte sie auf die Tür zu.
»Wo willst du hin?« Jamak vertrat ihr den Weg und hielt sie fest.
»Lass mich los!« Noelani versuchte, sich zu befreien, hatte damit aber keinen Erfolg.
»Was immer du vorhast, du darfst nicht überstürzt handeln«, mahnte Jamak. »Wenn es stimmt, was sie berichten …«
»Es stimmt nicht! Es kann nicht stimmen«, fuhr Noelani ihn an. »Und jetzt lass mich los!« Ihre langen Fingernägel krallten sich in seinen bloßen Unterarm und hinterließen kleine rote Halbmonde auf der Haut.
»Dann sag mir, was du vorhast.« Jamak schien den Schmerz nicht zu spüren.
»Ich bin die Maor-Say. Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig.«
»Und ich bin der, der über dich wacht.« Jamak machte keine Anstalten, den Weg freizugeben.
»Das ist vorbei.« Noelani funkelte Jamak an, als trüge er die Schuld an dem, was an diesem Morgen geschah. Dieser zeigte sich davon jedoch völlig unbeeindruckt.
»Das wird nie vorbei sein«, sagte er bestimmt. »Ich werde immer über dich wachen und dich mit meinem Leben beschützen.«
»Ich bin kein Kind mehr. Schon lange nicht. Vergiss das nicht.«
»Ein Kind nicht – aber eine Frau.«
Noelani seufzte. So kam sie nicht weiter.
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