Kristall der Macht
Jamak konnte sehr beharrlich sein, und sie hatte keine Zeit für lange Streitgespräche. »Ich gehe hinunter«, sagte sie knapp.
»Ins Dorf?«
»Wohin sonst?
»Nein, Noelani. Das ist …«
»… der einzige Weg, die Wahrheit zu erfahren.«
»Die erfährst du auch, wenn du deinen Geist auf Reisen schickst.«
»Mein Geist ist erschöpft.«
»Dann schicke einen der Dienstboten.«
»Wenn du glaubst, dass ich hier sitze und darauf warte, was andere mir berichten, irrst du dich.« Noelani reckte das Kinn vor, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. »Der Dämon schläft, so wahr ich hier stehe. Wer etwas anderes behauptet, lügt. Ich bin die Maor-Say, die Wächterin des Luantar. Ich würde spüren, wenn er sich regt. Aber ich habe nichts gespürt. Es gibt nicht einen einzigen Lebensfunken unter dem Gestein.« Sie schaute Jamak aufgebracht an. »Was immer heute Morgen geschehen ist, der Luantar kann es nicht gewesen sein. Die Dienstboten sind abergläubisch und ängstlich. Vermutlich werfen sie in ihrer Furcht die Wirklichkeit und die Legenden durcheinander. Ich bin sicher, dass alles halb so schlimm ist. Vielleicht ist das, was sie gesehen haben, ein ungewöhnlicher Nebel oder Sand aus der fernen Wüste, den der Wind über den Ozean trägt. Was auch immer, ich werde hinuntergehen, nach der Ursache forschen und die Menschen beruhigen. So wie es meine Pflicht ist.« Sie verstummte und maß Jamak mit einem Blick, der keinen Zweifel daran ließ, dass sie von ihm Gehorsam erwartete.
Jamak ließ sie los und seufzte. »Also gut. Aber du gehst nicht allein.«
»Deine Sorge ehrt dich.« Noelani schenkte Jamak ein Lächeln zum Zeichen, dass sie ihm nicht böse war. »Aber ich kann sehr wohl auf mich aufpassen. Kümmere du dich um Semirah und die anderen. Wir müssen verhindern, dass sich die Gerüchte im Tempel herumsprechen. Nichts ist schlimmer als eine grundlose Panik.« Mit diesen Worten schob sie sich an Jamak vorbei und verließ den Raum.
3
Begleitet von krachenden Donnerschlägen, stiegen in kurzer Folge fünf Rauchpilze über den reißenden Wassern des Gonwe auf. Die gewaltigen Explosionen rissen die Brücke, die sich noch vor wenigen Augenblicken über den Fluss gespannt hatte, so mühelos in Stücke, als wäre sie aus Pergament erbaut. Planken, Pfähle und Stämme wurden wie Spielzeug in die Luft geschleudert, wo sie sich mit den Leibern der nachrückenden Rakschun mischten, um einen Atemzug später ins Wasser zu stürzen und von den Fluten fortgespült zu werden.
Als sich der Rauch verzog, war von dem imposanten Bauwerk nichts geblieben. Nur drei schwarz verkohlte Stämme, die wie abgebrochene Finger aus der Mitte des Flusses aufragten, erinnerten noch an die hölzerne Lebensader, über die der befestigte Außenposten Baha-Uddins am westlichen Ufer seinen Nachschub erhalten hatte.
General Triffin hörte die Krieger hinter sich jubeln und atmete auf.
Die Rakschun konnten ihnen nicht folgen. Der Gonwe war breit, tief und von einer reißenden Strömung durchzogen, die den verhassten Feinden ein Überqueren unmöglich machte. Sie waren – zumindest vorerst – in Sicherheit.
Keiner von ihnen hatte wirklich daran geglaubt, dass der Mechanismus, der die Brücke zerstören sollte, nach all den Jahren noch funktionieren würde. Triffin selbst hatte den Hebel betätigt, der die Sprengung einleiten sollte, während die letzten Krieger die Brücke verlassen hatten und die Rakschun am anderen Ufer in blindem Siegestaumel herangestürmt waren.
Er hatte gehofft und gebetet, aber einige bange Augenblicke lang war nichts geschehen. Dann endlich hatten die Sprengladungen gezündet.
Triffin war erleichtert, wusste aber auch, dass er sich schuldig gemacht hatte. Er hatte den Prinzen niedergeschlagen und schutzlos in der Festung zurückgelassen. Allein dafür gebührte ihm der Tod. Danach hatte er die überlebenden Krieger um sich geschart und ihnen entgegen den königlichen Anweisungen den Rückzug befohlen – auch das war eine Entscheidung, für die König Azenor ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, dem Henker übergeben würde. Für all diese Vergehen, derer er sich in den vergangenen Stunden nach dem Kriegsrecht Baha-Uddins schuldig gemacht hatte, hatte er mehr als einmal den Tod verdient, doch das war ihm gleichgültig. Er hatte mehr als fünfhundert Leben gerettet. Das allein zählte.
Seite an Seite mit seinem Freund Prinz Marnek hatte General Triffin die Festung am Gonwe viele Monate gegen die fortwährenden
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