Kruzifix
ihr. Und die Toni ist schwanger.«
»Wie sehr?«
»Man sieht’s noch nicht. Nicht am Bauch. Aber alle wissen es.«
»Kein Wunder, dass er da so ausrastet. Er wird nicht wissen, wie er die Brut ernähren soll. Wenn er keinen Job mehr hat. Von Hartz IV allein wird er’s auch nicht schaffen.«
»Ja, das sind schon Sorgen. Aber er war schon immer etwas eigen. Er hat immer gesagt, er scheißt auf die Kirche, der Herrgott spricht direkt mit ihm. Er war in Kaufbeuren.«
In der Irrenanstalt.
Ich sagte:
»Ach so, in Kaufbeuren.«
»Die arme Toni! Aber die kann sich schon trösten.«
»Meinst du, die hat derweil einen anderen …?«
»So, jetzt sind wir fertig«, sagte sie unvermittelt. »Recht so?«
Ich befühlte meinen Kopf. Ertastete eine Rübe mit Stoppeln.
»Wunderbar!«, sagte ich.
Zum Glück hatte ich keinen Spiegel zur Hand.
»Magst noch was Scharfes vorm Heimweg?«, fragte ich sie.
Sie schaute unsicher.
»Einen Schnaps? Obstler?«
»Nein, ich mag lieber was Süßes. Eierlikör. Schokolikör.«
»Hab ich leider nicht da.«
Ich war auch ganz froh. Einerseits hätte ich sie gern gefragt, ob sie noch ihr Piercing trägt, und ob ich es mal aus der Nähe anschauen darf. Andererseits wusste ich, dass ich zu besoffen war, um meinen Mann zu stehen, man weiß ja nie, just in case , und drittens, so restklar war ich doch noch, erinnerte ich mich, dass ihr Mann ein kräftiger Bauer war. Nein, ich wollte nicht, dass er mit der Mistgabel in der Hand vor der Tür steht und fragt, wo seine Alte so lange bleibt.
»Gruß an dein’ Mann!«, log ich. »Und dank schön fürs Schneiden.«
Ich gab ihr einen Zwanziger. »Passt scho!«
»Tschüs«, sagte sie und wiegte ihren Popo mit ihrem Friseusenköfferchen davon.
Sie hatte mir viel gesagt. Aber weniger, als sie wirklich wusste.
Ich schaute zum Fenster hinaus. Frische Luft schnappen.
Drüben am Hang irrten Scheinwerfer durch die Nacht, ein Dreihundert- PS -Gefährt heulte auf und fuhr wie vergiftet über die Wiesen.
Ich dachte an Toni. Ich bin so stark. Und auch so wild. Ich treib es heiß und eisgekühlt.
Ich ging noch mal zur Haustür. Schauen, ob auch wirklich abgeschlossen war.
Ich sperrte die Tür von meinem Dachappartement zu.
Ich sperrte meine Schlafzimmertür zu.
Ich legte mein Handy neben mich.
Ich steckte meine Taschenlampe unter mein Kopfkissen.
Ich trank noch ein halbes Wasserglas Schnaps.
Ich hatte Angst.
Grundlos Angst.
Der Sauhund
Mitternacht war vorbei. Um vier Uhr kam um diese Zeit zwischen Himmelfahrt, Pfingsten und Trinitatis die Morgendämmerung. Nacht ist Angst. Morgendämmerung ist Erlösung. Wann schlafen?
Ich hörte Kuhglocken. Sie beruhigten mich.
Ich hörte einen Traktor. Er machte mir Angst.
Licht aus.
Eine Gestalt kommt auf mich zu. In der Hand ein zersplittertes Weizenglas. Sie lacht irre.
Ich bin gelähmt vor Angst. Ich will schreien, aber es kommt kein Ton. Ich bin im Bett gefesselt. Das Weizenglas mit seinem abgeschlagenen Zackenscherbenrand kommt näher. Es wird mir das Gesicht zerschneiden. Die Augen. Den Mund. Das Zahnfleisch. Die Zunge. Ich winde mich. Es nützt nichts. Wie kann ich sterben, bevor ich so zugerichtet werde?
Es kracht. Scherben klirren.
Ich wache auf. Klatschnass. Ich zittere. Wo ist er?
Ich habe nur geträumt.
Nur!
Ich knipse das Licht an. Auf dem Boden vor dem Fenster liegen die Scherben der Bierflasche. Unter der Fensterbank. Ich hätte sie aufräumen sollen. Es muss der Wind gewesen sein. Der Wind hat mich erlöst.
Ich bin völlig fertig.
Von einem Traum.
Gut, dass es niemand weiß.
Das letzte Mal, als ich so klatschnass vor Angst aufgewacht bin, war ich sechs. Jetzt bin ich fünfundsechzig.
Schande.
Ich lasse das Licht brennen. In einer Stunde wird es Tag. Das Zittern lässt nach.
Scheiß Traum.
Scheiß Tal.
Scheiß Ruhestand.
Alles Scheiß.
Ich nicke wieder ein.
Als ich aufwache, ist es nach acht, helle Sonne, Kaiserwetter. Ich bin wie gerädert. Da helfen auch vier Stunden Tiefschlaf nichts.
Ich muss mir das Zeug von der Seele laufen. Einfach weglaufen.
Um den See rum.
Kempten kann warten.
Um den See herumlaufen. Gute drei Stunden.
Ich nahm eine Plastikflasche voll Wasser mit. Ich trottete in meinem Jogging-Outfit die Kuhfladenstraße hinab. Halb neun schlug die Kirchturmuhr. Ich schaute die Kirche nicht an. Ich wollte nichts mehr damit zu tun haben. Mit dem Gehängten am Gekreuzigten. Zu viel ist zu viel.
Ich versteckte meine Wasserflasche im Bushäuschen
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