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Kruzifix

Kruzifix

Titel: Kruzifix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xaver Maria Gwaltinger
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gegenüber der Kirche unter der Wartebank. Wenn ich zurück bin nach meiner Seeumrundung, werde ich trinken, und die letzte halbe Stunde den Berg wieder rauf zur Alm joggen. Standjoggen. So steil ist das. Wenn ich unten trinke, komme ich oben nicht so ausgelutscht an.
    Ich verschraubte die Flasche fest. Ich hätte ein Tesaband um den Verschluss kleben sollen. Was ist, wenn mich jemand beobachtet und tut da was rein?
    Gift.
    Ach, sei nicht paranoid! Es langt schon, wenn einer hineinschifft.
    Ich bin paranoid. Gut, dass es keiner weiß. Man sieht es einem zum Glück nicht an. Weil es innerhalb vom Kopf ist.
    Laufen tut gut. Der See tut gut. Der Grünten, der Hausberg von Sonthofen, steht noch immer, wo er immer gestanden ist. Tausendsiebenhundertachtunddreißig Meter über dem Meeresspiegel hoch, steht er majestätisch da. »Wächter des Allgäus« haben sie ihn getauft. Er bewacht das Allgäu. Hoffentlich auch mich. Das Dorf ist eine Idylle von Frieden, am Wasser, umgeben von sanften Höhen und hohen Bergen mit weißen Gipfeln. Nein, es gibt nichts Böses. Das ist alles nur Illusion. Alles nur geträumt. Die Wirklichkeit ist so schön. So schön wie die Ansichtskarten von Tal am See.
    Wenn der Bauch nicht wäre! Ich bin noch keine fünf Kilometer gelaufen, da grummelt der Bauch. Zum Glück bin ich schon am See, abseits von der Bootanlegestelle mit dem Kiosk. Montag geschlossen. Gut! Die Büsche geben Sicherheit. Notfalls schlag ich mich in die Büsche. Ich hätte noch eine Viertelstunde daheim warten sollen. Aufs Klo gehen. Scheiße!
    Es grummelt immer mehr. Ich hasse es, in die Büsche zu müssen. Schauen, dass mich niemand sieht. Zum Glück ist Montag. Niemand da. Es brodelt im Gedärm, es bohrt im Bauch, es drückt. Schweißtropfen treten mir auf die Stirn. Ich finde es einfach unwürdig, ohne Klo aufs Klo zu gehen. Schauen, dass nichts auf die weißen Nike-Laufschuhe geht. Mit fünf Blatt Klopapier auskommen. Die habe ich immer dabei. Selbst wenn ich kein Geld dabeihabe. Klopapier immer.
    Ich laufe mit angehaltenem Atem, damit unten alles dicht bleibt. Mir fällt ein Patient aus meiner Krankenhauszeit ein. Er hat mir erzählt, dass er fünf Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft war. Fünf Jahre. »Und das Schlimmste war, dass wir kein Klopapier hatten.« Das war das erste Mal, dass ich mir den Horror der Kriegsgefangenschaft richtig vorstellen konnte. Fünf Jahre ohne Klopapier. Ich bin dankbar. Kein Krieg. Friede. Klopapier.
    Ich schlage mich in die Büsche. Damit mich die Kühe nicht sehen. Sonst vergeht ihnen das Wiederkäuen. Fünf Blatt. O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter. Nein danke! Klopapier. Sanft zur Haut. Fünf Blatt. Eine Sache des Einteilens.
    Dann schwebe ich weiter. Wie neu geboren. Frisch gewickelt. An einer Badewanne vorbei. Die Kühe saufen daraus das Regenwasser. Saftige Wiesen. Sanfte Höhen. Endlich frei. Herrliche Berge, sonnige Höhen, Bergvagabunden sind wir, ja wir. Endlich keine Angst mehr. Endlich locker.
    Ein Hund bellt.
    Warum bellt ein Hund in Tal? Hier gibt es keine Hunde, damit die Kühe und die Fremden – gemeint sind die Urlaubsgäste – nicht erschrecken. Kühe und Fremde sind lebenswichtig. Hunde verschrecken Kühe und Fremde. Deshalb gibt es hier keine Hunde. Woher also das Gebell?
    Ich laufe weiter, ganz Ohr, ganz Auge. Ob und wo so ein Köter auftaucht. Aus dem Bellen wird ein großer schwarzer Hund, er rast auf mich zu, ich denke, das ist das Ende, ich habe von Haus aus eine Hundephobie, meinen linken Oberarm ziert eine über fünfzig Jahre alte Narbe von einem deutschen Schäferhund. »Er wollte nur spielen!« Ich hätte zurückbeißen sollen … Als ich klein war, brachte mein Vater einen Hund ins Haus, so einen kleinen Keifer, aber ich keifte noch lauter, sprang auf den Tisch vor Angst, war vom Tisch nicht mehr runterzukriegen. Der Keifer wurde schnell wieder abgeschafft. Ich blieb Einzelkind.
    Erstaunlich, wie viel man in einer Sekunde denken kann. In der zweiten Sekunde, der Hund rast näher, erinnere ich mich an einen zufällig angeklickten Hinweis im Internet: Bei Hund im Anflug stehen bleiben. Tot stellen. Nicht anschauen.
    Ich bleibe stehen.
    Erstarre.
    Stelle mich tot. Atme so leise, dass der Hund denkt, ich atme nicht. Weil ich tot bin.
    Schaue woanders hin. Weiß nicht mehr, wohin. Jedenfalls woanders. Als gäbe es den Köter nicht.
    Hoffentlich riecht er meinen Angstschweiß nicht.
    Er bellt mich an, aber er springt mich nicht

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