Kürzere Tage
Das Medikament tauchte Canetti-Baumeister, Dix’ Bilder und JudithsZukunftsaussichten im Stuttgarter Kunstbetrieb in einen wabernden Nebel, vertrieb die Angst für eine Weile und half auch, die tägliche zermürbende Warterei auf Sörens Anrufe und sein sonstiges Verhalten zu ertragen. Leider reichte die verordnete Dosis nicht aus, um Judith langfristig zu erlösen.
Bald hatte sie außer dem Neurologen an der Uni noch drei weitere Ärzte in verschiedenen Vierteln der Stadt gefunden, die sie regelmäßig aufsuchte. Es war ganz einfach: Sie kam ungeschminkt und ungeduscht, ließ die Worte Examensstreß und Schlaflosigkeit fallen und heulte ein bißchen, was leichtfiel. Sie bekam schnell heraus, bei welchem Apotheken-Nachtdienst der Satz »Der Herr Doktor schreibt mir dieses Medikament immer auf« wirkungsvoll war, wo überlastete Helferinnen hastig unterschriebene Rezepte über den Tresen reichten. Bei akutem Mangel konnte sie auch am Nordeingang des Hauptbahnhofs einen Typen in schwarzem Jogginganzug und einer mit Flammen bestickten Wollmütze aufsuchen. Er hatte alles und leierte die Namen der Medikamente mit leiser Stimme herunter wie einen Psalm: »Valium, Librium, Tranxilium, Adumbran, Halcion, Rohypnol, Tramal, Fortal, Lepinal, Repocal . . .«
Judith trägt das Kaffeegeschirr in die Küche und steckt den Stöpsel in den Ausguß. Sie spritzt Spülmittel darauf und läßt heißes Wasser einlaufen. Aus dem Kinderzimmer tönen leises Gebrabbel und Liedfetzen: Kilian ist noch beschäftigt, und Judith macht sich nicht bemerkbar. Sie wischt den Tisch ab, rückt die Stühle weg und beginnt langsam, den Fußboden zu fegen. Sie konzentriert sich ganz auf die gleichmäßigen Bahnen, in denen sie den Besen über das Parkett führt. Die körperliche Anstrengung, das Bücken und Zusammenkehren mit dem Handfeger, das Verrücken der Möbel, läßt sie schwitzen. Etwas anderes als ihr keuchender Atem und der Rhythmus der sachte über das Holz kratzenden Borsten dringen nicht an ihr Ohr. Im Schädel herrschteine wohlige Leere. Dumpf wie ein Tiefseefisch läßt sie sich durch den Raum treiben, ungestört von Querschüssen aus der Hirnrinde. Auf diese Weise kommt Judith einem entspannten Zustand so nahe wie möglich.
Die therapeutische Qualität des Putzens hat sie erst kennengelernt, als sie ihren Haushalt mit Ulis Geburt enttechnisierte, Spülmaschine, Mixer und sogar den Staubsauger abschaffte. »Wenn die Kinder zu Haus nur einen brummenden Maschinenpark kennenlernen, der Sauberkeit und Ordnung schafft, aber keine Menschen bei der Arbeit sehen, wie sollen sie dann lernen mitzutun, zu helfen, sich zu entfalten?« hatte der sanfte Herr im Vortragsraum auf der Uhlandshöhe zu bedenken gegeben. Und Judith, die, geleitet von einem pastellfarbenen Faltblatt auf der Theke der Frauenärztin, eher zufällig in die Keimzelle der Waldorfpädagogik geraten war, empfand eine befreiende Freude über die Strenge der dort vorgegebenen Richtlinien. Ihre Entscheidung für die Waldorf- Welt glich einer plötzlichen Erleuchtung, dem Übertritt in einen geistigen Orden. Ein Buch, ein dickleibiger Ratgeber zur Gesundheit und Erziehung, genügte, um sie zu überzeugen. Judith schaffte eine Wiege mit rosa Himmel, Stoffwindeln und ein Schaffell an, hängte Raffaels Madonna an die Wand und fing an zu stricken. Manches würde hart werden, keine Frage. Aber wenn sie sich an all die verheißungsvollen Vorgaben hielt, konnte sie gar nichts falsch machen. Es schien einfach und bestechend: Ihre Kinder würden nicht krank werden, sie konnten zu geradlinigen, phantasievollen und glücklichen Menschen heranwachsen, frei von Süchten, Zweifeln, unvertraut mit Hackstraßenmist und der schneidenden Kälte auf den Gipfeln der Verzweiflung. Sie tauschte Dix gegen Hans Thoma. Wenn sie Ulrich und Kilian in ihrem plastikfreien Kinderzimmer spielen oder in Küche und Garten eifrig ihre eigenen hausfraulichen Tätigkeiten nachahmen sieht, hat sie den Eindruck, noch nie in ihrem bisherigen Leben so erfolgreich gewesen zu sein.
In der Küche liegt ein orangeroter Kürbis neben einem Bund Karotten auf der Arbeitsplatte: die Zutaten für die Abendsuppe. Sie freut sich an den Farben, muß schnell über die warzige Oberfläche des Kürbisses streichen, mit dem Daumen über eine erdverkrustete Möhre reiben, bis die leuchtende Schale zum Vorschein kommt. Im Frühjahr will sie mit den Kindern zusammen Möhren säen. Sie werden im Gärtle eine Stelle finden, wo das buschige
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