Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
1. Kapitel
D a Herrenhaus von Audley Court verbarg sich in einem Tal mit prächtigen alten Bäumen und üppigen Weiden. Schritt man durch eine Allee unter Linden entlang, die auf beiden Seiten von hohen Hecken und Wiesen gesäumt war, so stieß man unweigerlich auf den Landsitz. Am Ende dieser Allee befanden sich ein alter Torbogen und ein Glockenturm mit einer dummen, verwirrenden Uhr, die nur einen Zeiger besaß. Dieser sprang von einer Stunde zur nächsten und war daher immer entweder zu früh oder zu spät. Durch den Torbogen gelangte man in den Park von Audley Court.
Ein gepflegter Rasen breitete sich vor dem Besucher aus. Hier und da lockerten Rhododendren das Bild auf, die an diesem Ort prächtiger als irgendwo sonst in der Grafschaft wuchsen. Zur Rechten lagen die Gemüsegärten, der Fischteich und ein Obstgarten. Dieser wurde von einem ausgetrockneten Graben und einer verfallenen Mauer begrenzt. Die Mauer war über und über mit rankendem Efeu, gelbem Steinkraut und dunklem Moos bewachsen. Auf der linken Seite erstreckte sich ein breiter kiesbestreuter Weg, auf dem früher, als das Anwesen noch ein Kloster gewesen war, Nonnen schweigend gewandelt sein mochten. Stattliche Eichen warfen ihre Schatten über eine nahe Mauer, die das Herrenhaus und seine Gärten wie einen Schutzwall umschloss.
Es war ein sehr altes Gebäude, uneinheitlich und verschachtelt. Die Fenster waren mal klein oder groß, manche hatten wuchtige steinerne Mittelpfosten und prächtige bunte Scheiben, andere zerbrechliche Gitter, die bei jedem Luftzug klapperten. Doch einige sahen so neu aus, als seien sie erst gestern angebracht worden.
Hinter spitzen Giebeln ragten hier und dort hohe Schornsteine auf. Sie sahen aus, als seien sie durch ihr Alter so zerfallen, dass sie zusammenbrechen müssten, würde nicht der wuchernde Efeu an ihren Wänden hinaufkriechen, sie umschließen und stützen.
Der Eingang von Audley Court lag in einem Eckturm des Gebäudes und hatte eine prachtvolle Tür. Sie bestand aus altem Eichenholz und war mit großen Eisennägeln beschlagen. Die Tür war so massiv, dass der schwere Eisenklopfer nur ein gedämpftes Geräusch hervorbringen konnte. Und so benutzten Besucher in diesen Tagen lieber eine laut klingelnde Glocke, die sich zwischen den Efeuranken neben der Tür befand. Mussten sie doch befürchten, dass der Klang des Klopfers niemals das riesige Haus durchdringen könne.
Ein herrlicher alter Landsitz. Es war ein Ort, über den Besucher in Verzückung gerieten und den sehnsüchtigen Wunsch verspürten, das unruhige Leben der Stadt hinter sich zu lassen, um für immer bleiben zu können. Es war ein Fleck Erde, an dem der Friede sich niedergelassen und seine besänftigende Hand auf jeden Baum und jede Blume gelegt zu haben schien. Er ruhte auf den Teichen und stillen Wegen, in den dämmrigen Ecken der altmodischen Räume und den tiefen Fenstersitzen hinter den bunten Glasscheiben. Ja, sogar auf dem alten, ausgedienten Brunnen, der sich, kühl und geschützt wie alles an diesem ehrwürdigen Ort, in einem Gebüsch im Hintergrund des Gartens befand.
Ein herrschaftlicher Wohnsitz, von innen wie von außen. Doch war es auch ein Haus, in dem man sich verirrte, sollte man so unbesonnen sein, sich allein auf den Weg hindurch zu machen. In diesem Haus glich nicht ein Raum dem anderen. So ging jedes Zimmer in einen weiteren Raum über, und durch diesen hindurch gelangte man über schmale Treppen hinunter zu Türen, die wieder zurückführten in gerade jenen Teil des Hauses, von dem man sich am weitesten entfernt glaubte. Ein Herrensitz, der niemals von einem gewöhnlich sterblichen Architekten
in dieser Weise hätte geplant werden können. Vielmehr war es das Werk jener alten Baumeisterin, die man die Zeit nennt. In einem Jahr hatte sie einen Raum hinzugefügt und in einem anderen Jahr ein Zimmer entfernt, einmal ließ sie einen Kamin aus der Epoche der Plantagenets niederstürzen, um dann einen weiteren im Baustil der Tudors zu errichten. Hier hatte sie einen uralten Mauerrest aus der angelsächsischen Zeit umgeworfen, dort aber einen normannischen Torbogen stehen lassen. Unter der Herrschaft von Queen Anne hatte sie eine
Reihe von hohen, schmalen Fenstern eingebaut und später neben einem Saal ein Esszimmer hinzugefügt, das der Mode des Hannoveraners George I entsprach. Und so hatte es die Zeit in nunmehr elf Jahrhunderten fertiggebracht,
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