Kürzere Tage
unverständlichen Stimme aus dem Lautsprecher, dem Holpern der Rollenkoffer und dem Gelächter und Gerede der Reisenden.
Ob Eino damals mit dem Zug abgehauen ist? Er kramt den Zettel hervor und liest noch mal die Adresse: Eino Rännumees, Rahu mois, Pedassaare, Lääne-Virumaa, Eestimaa . Es ist schrecklich, denn er merkt, daß er nicht weiß, wohin er jetzt fahren soll. Er schaut von der estnischen Adresse auf die Anzeigetafel und von der Anzeigetafel zurück auf den Zettel. Zwischen ihm und dem Estland, das er erreichen will, liegt noch mehr, ein Haufen Orte, von denen er keine Ahnung hat. Er weiß nur, daß irgendwo dahinten Marbach ist, mit der S 4 bis Endstation, und er kennt Tübingen, da waren sie auf Klassenreise in der Vierten. Tübingen und der Neckar, der gelbe Turm, vor dem so komische Bäume ihre Zweige ins Wasser hängen ließen. Und all diese Namen auf der blauen Tafel, Heilbronn, Bruchsal, Mannheim, das waren nur Worte, die ins Nichts führten, keine Bedeutung hatten. Wieder grabbelt er in der Tasche herum. Das einzige, was ihn beruhigt, ist das Gefühl der Scheine, die immer noch an derselben Stelle stecken.
Bei der Treppe, neben dem Obststand, gibt es so ein Häuschen mit Glasdach, ›Servicepoint‹, mit zwei Leuten in Uniform. Aber er will auf keinen Fall irgendeine Fratze hier ansprechen und Aufmerksamkeit erregen. Statt dessen geistert er herum, schaut auf die Fahrpläne, Ankunft, Abfahrt. Da gibt es auch Automaten, er drückt ein bißchen herum, von A bis Z, Ziel eingeben, Estland funktioniert natürlich nicht. Ein paar Skater in karierten Hosen und Kapuzenshirts stehen neben dem Süßi-Stand, alles ist voll mit grinsenden Kürbissen und Zuckerskeletten. Sie feixen undwiehern. Typen mit Anzügen, Frauen, die in ihre Handys quaken, Bahnleute mit roten Mützen, alle wissen genau, wo sie hinwollen. Nur er hängt hier rum, und bald kommen die Bullen, um zu fragen, was er denn so spät noch hier macht und so weiter und so fort. Er geht rüber zur Treppe, Post, Marktstation. Auf den Leuchtbuchstaben pennen ein paar Tauben. Die Anzeigetafel flimmert blau, er liest noch mal die Reihe runter, diese ganzen Scheißkäffer: Heilbronn, Bruchsal, Heidelberg, Berlin Ostbahnhof, 18:51 Uhr von Gleis 12. Das ist es. Berlin Ostbahnhof. Da kommt die Pistole her. Von dort aus wird es schon weitergehen, irgendwie. Marco atmet tief durch. Jetzt wird er es packen, jetzt geht es los. Es klappt auch mit dem Automaten, Ziel eingeben, einfache Fahrt von Stuttgart nach Berlin Ostbahnhof, 122 Euro. Die hat er, die stopft er locker in den Schlitz und unten kommt die Karte raus, so einfach ist das, und er muß grinsen, als er sich umdreht, um zu seinem Gleis zu gehen.
Anita steht direkt vor ihm, am Stand mit dem Schmuck, und hat ihm den Rücken zugewandt. Sein Herz geht los wie irre, er japst auf. Sofort erkennt er
die silberne Steppjacke, den fusseligen rosa Schal und ihr Haar, so blond, fast weiß, mit Spray zurechtgefönt, daß der Kopf wie eine Riesenpusteblume
aussieht. Sie beugt sich über den Krimskrams, Elefanten und anderes Viechzeug aus Edelsteinen, Eier und Herzen. So was mag sie gern. Ihr Hintern quillt
mächtig aus der dunklen Hüftjeans. Zwischen Jacke und Gürtel sieht Marco einen Streifen heller Haut und weiß, daß vorne ein ordentlicher Ring weicher
Speck über den Bund hängt: Schwabbel-Anita. Sie ist allein und wühlt in den Steinen. Vielleicht hat sie Porno zum Teufel gejagt und will Marco
holen. Vielleicht gehen sie zusammen nach Hause, in die stille Wohnung, setzen sich in die Küche, und Schwabbel-Anita fragt: »Willst du einen Kaba?« Sie
macht Nutella-Toasts, und sie sehen zusammen auf der Couch fern, vielleicht Schwammkopf oder irgendeine Serie. Schwabbel-Anita schläft ein und
schnarcht. Ihr Mund steht offen, und Marco sieht ihre Schneidezähne. Oben rechts hat sie einen falschen Brilli kleben, das wollte Porno unbedingt. Marco
schaut auf die Uhr. Es ist 18:47 Uhr, in vier Minuten geht sein Zug. Marco wischt sich die schweißigen Hände an den Innenseiten der Hose ab. Dann dreht er
sich um und rennt. Gleis 12, Gleis 12, er sagt es vor sich hin, er sieht die schwarzen Zahlen auf dem Schild. Der Zug steht schon da, es ist ein ICE,
schlank und weiß mit rotem Streifen. Marco drückt auf den Knopf neben der Tür, sie öffnet sich zischend und läßt ihn ein.
Mustermütter und Karrierefrauen, Eurythmie und Hysterie, Alleinerziehende und Problemkinder, Wohlstand und Verwahrlosung.
Weitere Kostenlose Bücher