Kürzere Tage
grüne Kraut in die Höhe schießen kann. Sie stellt sich vor, wie die beiden Jungen die fedrigen Pflanzenschöpfe packen und das Gemüse aus dem Boden ziehen, die Erde an der Hose abwischen und sofort zubeißen, im vertrauensvollen Umgang mit der Natur, die ihnen die Nahrung spendet. Kartoffeln zu setzen wäre auch ein schönes Erlebnis, beobachten, wie aus einer Mutterknolle viele kleine Früchte hervorgehen, oben hübsche weißviolette Blüten, unten eßbare Wurzeln. Aber bei einem der letzten Informationsabende im Kindergarten hat Judith von Rudolf Steiners ablehnender Haltung bezüglich der stärkehaltigen Knolle erfahren. Die Referentin, eine anthroposophische Ärztin, war deutlich: »Die Kartoffel wirkt in einseitiger Weise auf die Nervenorgane. Sie schwächt das meditativ-verinnerlichende Denken zugunsten eines verstandesmäßig-reflektierenden. Damit wird ein auf das Materialistische reduziertes Vorstellungsleben gefördert. Sie werden feststellen, daß bereits vier Wochen nach einer Umstellung von Kartoffeln auf Getreide, Wurzeln und andere Gemüse eine zunehmende gedankliche Frische und Beweglichkeit eintritt, und das tut allen gut, Kindern und Eltern.«
Früher hätte Judith solche Aussagen nicht ohne Grinsen hingenommen. Im Studium ging der Zweifel automatisch in jede Lektüre, jede Bildbetrachtung ein. Es schien ein Organ zu geben, das ständig dieses zersetzende Sekret absonderte. Wer nicht kritisierte, dessen Verstand funktionierte nicht. Vertrauensvoll hinnehmen, nicht hinterfragen, mittun und fühlend aufnehmen,diese Maximen der Steinerschen Pädagogik, die Kindern wie Erwachsenen anempfohlen wurden, erscheinen ihr wie ein warmes Bad, in dem sich ihr ausgeleiertes Denkvermögen erholen kann.
Allerdings liest Judith nur widerwillig in Steiners Werken, auch wenn es im Kindergarten gerne gesehen wird, daß die Eltern sich in das Gedankengut des Meisters einarbeiteten. ›Die Philosophie der Freiheit‹ liegt mit ungebrochenem Rücken auf ihrem Nachttisch. Sie blättert darin, wenn sie den Wunsch hat, auf den Endlosspiralen schlecht formulierter, krauser Gedankengänge leichter in den Schlaf zu gleiten. Ihr genügt das Vertrauen auf einen Überbau. Sie weiß wenig über die Akasha-Chronik, Atlantis, über Karma, Elementarwesen und die Temperamentenlehre. Lieber sind ihr die hilfreichen Heftchen aus anthroposophischen Verlagen, in denen man angeleitet wird, womit die Kinder spielen, was sie zu essen bekommen sollen, wie man Jahreszeitentische aufbaut, Haulemännlein strickt und längst vergessene Murmel- und Ballspiele reaktiviert. Wenn sie das liest und befolgt, fühlt sie sich aufgehoben wie in dem wollenen Fäustling, in den die Maus aus dem Bilderbuch schlüpft.
Eine Weile ist Judith damit beschäftigt, das Gemüse zu putzen. Der Kürbis leistet viel Widerstand, seine Schale ist hart und brüchig. Sie hebelt Stück um Stück herunter. Sie ist gerne in der Küche. Es gefällt ihr, die gefüllten Regale zu sehen, die Schraubgläser mit Dinkel, Weizenschrot, Haferflocken, die bunten Blechdosen der Kräutertees, das irdene Geschirr, die gebügelten Trockentücher an ihren Haken. Es ist ein Ort, an dem sie Entspannung fühlt. Mit Abscheu denkt sie an die winzige dunkle Kochnische in der Hackstraße. Es gab keinen richtigen Herd, nur zwei elektrische Platten, verkrustet vom Dreck des Vormieters, auf denen sie nie etwas anderes kochte als Kaffeewasser und Fertiggerichte. Beim Essen las sie Zeitung, telefonierte, rauchte und tippte manchmal am Computer Seminararbeiten, auf die Tastatur kleckerndund mit Magenkrämpfen bei der Vorstellung, wie Baumeister ihre Deutungsversuche des Dixschen Werks beurteilen würde. Das Bild der verdreckten Kochgelegenheit bleibt nicht lange allein, weitere folgen und entfalten sich klar, grell und so schmerzhaft vor ihr, daß sie das Gesicht verzieht: die morgendlichen Straßenbahnfahrten zur Uni, quer durch den Stuttgarter Osten, vorbei am Gaskessel, der wie ein riesiges Michelinmännchen aus schwarzen Scheiben zusammengesetzt im Talkessel hockte, umgeben von den Baukastenelementen der Industrieanlagen. Jeden Morgen fuhr Judith vom Schlachthof bis zur Keplerstraße, vorbei an Saunapuffs, türkischen Gemüse- und Juweliergeschäften, dem Karl-Olga-Krankenhaus. Sie passierte den Bergfriedhof im Schutz grau verputzter Mauern, hinter denen dunkle Bäume emporragten wie auf einem Böcklin-Gemälde, kroatische, griechische und serbische Restaurants, Tanzschuppen und
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