Küsse, die "Verzeih mir" sagen
1. KAPITEL
Annie Bower parkte ihren Kleinwagen vor der Grundschule, die ihre Tochter besuchte, und öffnete die Fenster. Für Mitte Oktober war es dieses Jahr in Santa Rosa noch ziemlich heiß. Sie blickte auf die Uhr am Armaturenbrett. Halb vier. Die Schulglocke schrillte, und kurz darauf stürmten die ersten Schüler auf den Hof.
Ein paar Minuten später sah Annie auch schon ihre Tochter Roberta zusammen mit ihrer besten Freundin Debbie auf das Auto zuschlendern. Debbies Mutter Julie – wie Annie alleinerziehend – brachte die Mädchen morgens zur Schule, und Annie holte sie nach dem Unterricht wieder ab. Meist verbrachte Debbie den Rest des Nachmittags bei ihnen, bis Julie von der Arbeit kam.
Dieses Arrangement hatte sich in den letzten zwei Jahren bestens bewährt. Das war einer der Gründe, warum sich Annie über das überraschende Jobangebot, das sie heute per Post erhalten hatte, noch nicht so richtig freuen konnte. Dabei ging es um ihren absoluten Traumjob, auf den sie jahrelang gewartet hatte. Seit fünf Jahren arbeitete sie nun schon für die kalifornische Forstbehörde, doch sie wünschte sich nichts mehr, als wieder an archäologischen Ausgrabungen teilnehmen zu können. Endlich war eine solche Stelle freigeworden, und das auch noch an neu entdeckten Siedlungsorten der Sierra-Indianer, die Annies Spezialgebiet waren.
Doch was bedeutete das für Roberta? Sie würden umziehen müssen, und Roberta war ein stilles Kind. Es fiel ihr nicht leicht, Freundschaften zu schließen. Außerdem würde sie ihre Großeltern nicht mehr so oft sehen.
Vor zehn Jahren, als Annie nach Roberts Tod schwanger aus dem Nahen Osten zurückgekehrt war, hatten ihre Eltern sie mit offenen Armen aufgenommen. Am liebsten hätten sie es gesehen, wenn sie bei ihnen eingezogen wäre, doch trotz aller Schwierigkeiten hatte sich Annie ihre Selbstständigkeit erhalten wollen.
Sie hatte sich ein Zimmer in San Francisco gemietet, einen Kredit aufgenommen, um ihr Studium abzuschließen, und Roberta in den Vorlesungszeiten in eine Kita gegeben. Nach ihrem erfolgreichen Abschluss in Anthropologie hatte sie den Job bei der Forstbehörde angenommen und war mit ihrer Tochter in eine hübsche Wohnung in Santa Rosa gezogen. Während sie als Archäologin langsam an Ansehen gewonnen hatte, war sie Roberta die beste Mutter gewesen, die sie sein konnte.
Jeden Monat verbrachten sie ein Wochenende bei ihren Eltern in San Francisco, doch das verlief nicht immer reibungslos. Ihre Eltern waren noch immer der Meinung, dass Annie und Roberta lieber bei ihnen einziehen sollten. Über den neuen Job würden sie alles andere als begeistert sein. Sie verstanden einfach nicht, wie man ein Kind haben und trotzdem seine Arbeit lieben konnte. Von dieser Seite war also keine Unterstützung zu erwarten.
Aber sie und Roberta würden es auch allein schaffen. Andere Leute zogen schließlich auch um, wenn es die Arbeit erforderte. Annie war gespannt, wie Roberta auf die Neuigkeiten reagieren würde.
„Hallo, ihr zwei.“
„Hi!“, erwiderte Debbie und stieg als Erste in den Wagen.
Roberta setzte sich neben sie auf den Rücksitz.
„Na, wie war es heute?“, fragte Annie, während sie sich wieder in den Verkehr einfädelte.
„Ganz gut.“ Wie immer war die neunjährige Roberta ziemlich einsilbig, wenn es um die Schule ging.
„Wir hatten eine Vertretung“, erklärte Debbie.
„Und, war sie nett?“
„Ja, sie war ganz in Ordnung, aber sie hat zwei Jungs nachsitzen lassen.“
„Was hatten die denn angestellt?“
„Sie haben die Lehrerin ausgelacht, weil sie hinkt.“
Jetzt schaltete sich auch Roberta wieder in die Unterhaltung ein. „Jason und Carlos sind gemein“, murmelte sie.
Annie suchte ihren Blick im Rückspiegel. „Ja, es ist wirklich gemein, jemanden wegen einer Behinderung auszulachen.“
„Ich werde es Mrs Darger sagen, wenn sie wieder da ist.“
„Ja, das solltest du tun.“
Die Schule hatte strenge Anti-Mobbing-Regeln und mit Mrs Darger eine besondere Vertrauenslehrerin, die man bei Verstößen ansprechen konnte, ganz gleich, ob nun Schüler oder Lehrer die Zielscheibe waren.
„Aber wenn die beiden das rausfinden, bekommst du mächtig Ärger“, gab Debbie zu bedenken.
„Ist mir egal“, erwiderte Roberta gleichmütig.
Und das stimmte. Roberta hatte einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und kümmerte sich nicht um die Konsequenzen, wenn sie für Schwächere eintrat.
Sie war wirklich ein ganz besonderer Mensch.
Kurze Zeit
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