Küssen will gelernt sein: Roman (German Edition)
unfruchtbar, wie er es von Ruth vermutet hatte, und so schön, dass es ihn schmerzte. Sie und ihr Töchterchen waren ihm sehr dankbar gewesen und hatten sich mühelos nach seinen Wünschen formen lassen. Doch seine Stieftochter hatte ihn bitter enttäuscht, und das Eine, was er sich von Gwen am meisten wünschte, hatte sie ihm nicht geben können. Selbst nach jahrelanger Ehe hatte sie ihm keinen rechtmäßigen Erben geschenkt.
Henry drehte die Walze und schaute auf den Revolver in
seiner Hand. Mit dem Pistolenlauf schob er den Karton mit den Leinöllumpen näher an das Heizgerät. Nach seinem Abgang sollte niemand die Schweinerei wegmachen müssen. Der Song, auf den er gewartet hatte, tönte knackend durch die Lautsprecher, und er drehte den Kassettenrekorder lauter, während Johnny besang, wie er in einen brennenden Ring aus Feuer fiel.
Sein Blick verschleierte sich, während er über sein Leben und die Menschen nachdachte, die er zurückließ. Verdammt schade, dass er nicht dabei sein konnte, um ihre Gesichter zu sehen, wenn sie erfuhren, was er getan hatte.
EINS
»Der Tod kommt zu uns allen und damit auch die unvermeidliche Trennung von geliebten Menschen«, sprach Reverend Tippet mit eintöniger, ernster Stimme. »Henry Shaw, unser geliebter Ehemann, Vater und tragendes Mitglied unserer Gemeinde, wird uns fehlen.« Der Pfarrer hielt inne und ließ den Blick über die große Trauergemeinde schweifen, die sich eingefunden hatte, um Abschied zu nehmen. »Henry würde sich freuen, hier so viele Freunde versammelt zu sehen.«
Henry Shaw hätte einen kurzen Blick auf die Autos geworfen, die rückwärts am geschlossenen Friedhofstor parkten, und festgestellt, dass die beachtliche Anteilnahme hinter seinen Erwartungen zurückblieb. Schließlich war er über vierundzwanzig Jahre lang Bürgermeister von Truly, Idaho, gewesen, bis man ihn letztes Jahr zu Gunsten des eingefleischten Demokraten George Tanasee abgewählt hatte.
In der kleinen Gemeinde war Henry ein hohes Tier gewesen. Er hatte die Hälfte der Geschäfte besessen und mehr Geld als die ganze Stadt zusammen. Kurz nachdem seine erste Frau sich vor sechsundzwanzig Jahren von ihm hatte scheiden lassen, hatte er sie durch die hübscheste Frau ersetzt, die er auftreiben konnte. Ihm hatten Duke und Dolores, die schönsten zwei Weimaraner im ganzen Staat, gehört, und noch bis vor Kurzem hatte er im größten Haus der Stadt gewohnt. Doch das war, bevor die verdammten Allegrezza-Jungs begonnen hatten, überall in der Stadt zu bauen. Er hatte auch eine Stieftochter,
mit der er jedoch seit Jahren nicht mehr gesprochen hatte.
Henry hatte seine herausragende Stellung in der Gemeinde genossen. Zu den Menschen, die mit ihm einer Meinung waren, war er herzlich und großzügig, doch wer nicht Henrys Freund war, war sein Feind. Wer es wagte, ihn herauszufordern, bereute es normalerweise. Er war ein aufgeblasener, hinterwäldlerischer Scheißkerl gewesen, und als man seinen verkohlten Leichnam aus dem Inferno gezogen hatte, das ihn das Leben gekosten hatte, wurden in der Gemeinde Stimmen laut, dass Henry Shaw genau das bekommen hatte, was er verdiente.
»Wir übergeben den Körper unseres geliebten Menschen der Erde. Henrys Leben …«
Delaney Shaw, Henrys Stieftochter, lauschte der nichts sagend dahinplätschernden Stimme von Reverend Tippet und sah ihre Mutter verstohlen von der Seite an. Die leichten Spuren der Trauer standen Gwen Shaw gut, doch das überraschte Delaney nicht. Ihrer Mutter stand grundsätzlich alles. Schon immer. Delaney richtete den Blick wieder auf den gelben Rosenstrauß auf Henrys Sarg. Die helle Junisonne sprühte Funken von den glänzenden Messingbeschlägen auf dem polierten Mahagoniholz. Sie griff in die Tasche des minzgrünen Kostüms, das sie sich von ihrer Mutter geborgt hatte, und suchte nach ihrer Sonnenbrille. Sie schob sich das Horngestell auf die Nase und verbarg ihre Augen vor den stechenden Sonnenstrahlen und den neugierigen Blicken. Sie straffte die Schultern und atmete tief durch. Sie war seit zehn Jahren nicht mehr zu Hause gewesen. Sie hatte immer zurückkommen und mit Henry Frieden schließen wollen. Dafür war es jetzt zu spät.
Die leichte Brise wehte ihr die rotgold gesträhnten Locken ins Gesicht, und sie strich sich ihr kinnlanges Haar hinter die Ohren. Sie hätte es versuchen müssen. Sie hätte nicht so lange
wegbleiben sollen. Sie hätte nicht so viele Jahre ins Land ziehen lassen dürfen, doch ihr war nie in den Sinn
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