Kunst des Feldspiels
ein offenes Portal zu. Ein Eichhörnchen flitzte von einem
Baum herunter und prallte an das Bein desjenigen, der rückwärts lief – er
schrie auf und ging auf die Knie, und eine Ecke des Fernsehers versank in dem
nagelneuen, plüschartigen Rasen. Der andere lachte. Das Eichhörnchen war längst
weg. Aus einem der oberen Fenster wehte von irgendwoher der Klang einer Violine
herüber.
Henry entdeckte die
Phumber Hall und lief die Treppen hinauf bis in den obersten Stock. Die Tür mit
der 405 stand leicht offen, und durch den Spalt
kam Musik, die nur aus Pieptönen zu bestehen schien. Henry verharrte nervös im
Treppenhaus. Er wusste nicht, wie viele Mitbewohner er haben würde oder was für
Mitbewohner das sein würden oder was für eine Musik das war. Wäre er in der
Lage gewesen, sich die Studenten des Westish College überhaupt irgendwie
konkret vorzustellen, hätte er sich zwölfhundert Mike Schwartze vorgestellt,
riesenhaft und mythisch und bedeutsam, und zwölfhundert Frauen von der Sorte,
mit der Mike Schwartz ausging: langbeinig, atemraubend und beschlagen in Alter
Geschichte. Das Ganze war im Grunde viel zu bedrohlich, um überhaupt darüber
nachzudenken. Mit dem Fuß stupste er die Tür auf.
Im Zimmer standen zwei
identische Betten mit Stahlrahmen und zwei identische Garnituren Schreibtische,
Stühle, Kleiderschränke und Bücherregale aus hellem Holz. Eines der Betten war
fein säuberlich gemacht, komplett mit mintgrüner Tagesdecke aus Plüsch und
einem Haufen weicher Kissen. Die andere Matratze war kahl bis auf einen
ockergelben Fleck, der in Form und Größe ungefähr einem Menschen entsprach. Auf
beiden Regalen standen bereits Bücher ordentlich in Reih und Glied, nach
Autorennamen sortiert von Achebe bis Tocqueville, während die restlichen T s und alle anderen bis zum Z sich auf dem Kaminsims stapelten. Henry lud seine Taschen auf dem ockergelben
Fleck ab und zog die zerlesene Ausgabe von Aparicio Rodriguez’ Die Kunst des Feldspiels aus der Tasche seiner Shorts. Die Kunst war das einzige Buch, das er mitgebracht hatte,
das einzige Buch, das er wirklich kannte: Plötzlich kam ihm das Ganze hier wie
ein möglicherweise riesengroßer Fehler vor. Er wollte es schon zwischen
Rochefoucauld und Roethke klemmen, doch siehe da, dort stand bereits ein
Exemplar, eine hübsche gebundene Ausgabe mit einmal geknicktem Rücken. Henry
zog sie hervor und drehte sie in den Händen. Auf dem Vorsatzpapier stand, in
wunderschöner kalligraphischer Schrift, Owen Dunne .
Henry hatte im Nachtbus Aparicio gelesen. Oder zumindest das offene
Buch die ganze Zeit über auf dem Schoß gehabt, während die eintönigen
Betonplatten der Interstate vorbeizogen. Inzwischen konnte man das Lesen von
Aparicio im Grunde nicht länger als Lesen bezeichnen, weil er das Buch mehr
oder weniger auswendig kannte. Zu welchem Kapitel er auch blätterte, schon die
Form der kurzen, nummerierten Paragraphen reichte aus, um sein Gedächtnis zu
aktivieren. Seine Lippen murmelten die Worte, während die Augen unkoordiniert
über die Seite flogen.
26 . Der Shortstop ist ein
Ruhepol im Zentrum der Verteidigung. Er strahlt diese Ruhe aus, und seine
Mitspieler reagieren darauf.
59 . Einen Aufsetzer zu
bewältigen muss als Akt der Selbstlosigkeit und der Erkenntnis begriffen
werden. Man agiert nicht gegen den Ball, sondern mit ihm. Der schlechte Spieler
sticht auf den Ball ein wie auf einen Feind. Hierin liegt ein Antagonismus. Der
wahrhaftige Spieler lässt den Weg des Balls zu seinem eigenen werden, denkt
sich in ihn hinein und lässt das eigene Ich, die Ursache allen Übels, auch
einer schlechten Verteidigung, hinter sich.
147 . Wirf mit den Beinen.
Aparicio hatte achtzehn Spielzeiten lang als Shortstop für die
St. Louis Cardinals gespielt. Er war in Rente gegangen, als Henry zehn
wurde. Er gehörte zu denen, die gleich im ersten Durchgang in die Hall of Fame
gewählt wurden, und war der beste defensive Shortstop aller Zeiten. Als
Baseballspieler hatte Henry ihn sich bis ins letzte Detail zum Vorbild
genommen, von der Art, wie er gleitend und beidhändig Aufsetzer bezwang, über
die Art, wie er seine Kappe tief ins Gesicht gezogen trug, um seine Augen zu
schützen, bis hin zu der Angewohnheit, sich drei Mal gegen das Herz zu tippen,
bevor er in die Schlagzone trat. Und die Trikotnummer natürlich. Aparicio war
der Meinung, die Nummer 3 habe eine tiefere Bedeutung.
3 . Es gibt drei Stadien.
Gedankenloses Sein. Denken.
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