Kunst des klaren Denkens
Ereignissen gibt es keine ausgleichende Kraft. Eine Kugel kann sich nicht daran erinnern, wie oft sie schon auf Schwarz liegen geblieben ist. Ein Freund führt aufwendige Tabellen mit allen gezogenen Lotto-Zahlen. Er füllt den Lottoschein stets so aus, dass er die am seltensten gezogenen Zahlen ankreuzt. Doch die ganze Arbeit ist für die Katz – Spielerfehlschluss .
Folgender Witz illustriert den Spielerfehlschluss : Ein Mathematiker nimmt auf jedem Flug eine Bombe mit ins Handgepäck. »Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Bombe im Flugzeug ist, ist sehr gering«, sagt er, »und die Wahrscheinlichkeit für zwei Bomben liegt nahezu bei null!«
Eine Münze wird dreimal geworfen, und dreimal landet sie auf Kopf. Angenommen, jemand zwingt Sie, 1.000 Euro Ihres eigenen Geldes für den nächsten Wurf auszugeben. Würden Sie auf Kopf oder Zahl setzen? Wenn Sie so ticken wie die meisten Menschen, werden Sie auf Zahl setzen, obwohl Kopf ebenso wahrscheinlich ist – der bekannte Spielerfehlschluss .
Eine Münze wird 50-mal geworfen, und 50-mal landet sie auf Kopf. Wieder zwingt Sie jemand, 1.000 Euro zusetzen. Kopf oder Zahl für den nächsten Wurf? Smart, wie Sie sind, lächeln Sie, denn Sie haben das Kapitel bis hierher gelesen und wissen, dass es nicht darauf ankommt. Doch das ist die klassische Déformation professionnelle des Berufsmathematikers. Hätten Sie gesunden Menschenverstand, würden Sie eindeutig auf Kopf setzen, weil Sie schlichtweg annehmen müssen, dass die Münze gezinkt ist.
In einem anderen Kapitel betrachteten wir die Regression zur Mitte . Beispiel: Wenn Sie einen Kälterekord in Ihrem Wohnort erleben, wird die Temperatur in den nächsten Tagen wahrscheinlich ansteigen. Wäre das Wetter ein Kasino, würde die Temperatur mit 50 % Wahrscheinlichkeit fallen und mit 50 % Wahrscheinlichkeit steigen. Doch das Wetter ist kein Kasino. Komplexe Rückkopplungen sorgen dafür, dass Extremwerte sich wieder ausgleichen. In anderen Fällen allerdings verstärkt sich das Extrem: Reiche werden tendenziell immer reicher. Eine Aktie, die in die Höhe schießt, schafft sich bis zu einem gewissen Punkt eine eigene Nachfrage, einfach weil sie so heraussticht – eine Art umgekehrter Ausgleichseffekt.
Fazit: Schauen Sie also genau hin, ob Sie abhängige oder unabhängige Ereignisse vor sich haben – diese gibt es eigentlich nur im Kasino, im Lotto und in den Theoriebüchern. Im richtigen Leben sind die Ereignisse meistens voneinander abhängig – was bereits geschehen ist, hat einen Einfluss darauf, was in Zukunft geschehen wird. Also vergessen Sie (außer in den Regression-zur-Mitte-Fällen) die ausgleichende Kraft des Schicksals.
DER ANKER
Wie uns ein Glücksrad den Kopf verdreht
Wie lautet Martin Luthers Geburtsjahr? Falls Sie es nicht auswendig wissen und die Batterie Ihres Smartphones gerade leer ist, wie gehen Sie vor? Vielleicht wissen Sie, dass Luther im Jahr 1517 seine Thesen an die Kirche von Wittenberg geschlagen hat. Damals war er sicher älter als, sagen wir, 20, aber auch jung genug für diesen mutigen Akt. Nach der Publikation der Thesen wurde er nach Rom vorgeladen, der Ketzerei beschuldigt, und schließlich exkommuniziert. Er übersetzte die Bibel und geriet in die Fänge der Politik. Er lebte also noch eine ganze Weile nach 1517, wird im Jahr 1517 demzufolge rund 30 Jahre alt gewesen sein. Somit ist 1487 keine schlechte Schätzung für sein Geburtsjahr. (Korrekte Antwort: 1483.) Wie sind Sie vorgegangen? Sie hatten einen Anker , an dem Sie sich halten konnten – nämlich das Jahr 1517 – und haben sich von dort aus orientiert.
Wann immer wir etwas schätzen – die Länge des Rheins, die Einwohnerdichte von Russland, die Anzahl Kernkraftwerke in Frankreich –, benutzen wir Anker . Wir nehmen etwas Bekanntes und wagen uns von dort aus ins Unbekannte vor. Wie sonst sollen wir schätzen? Einfach eine Zahl vom Himmel pflücken? Das wäre unvernünftig.
Dummerweise setzen wir Anker auch dort ein, wo sie vollkommen haltlos sind. Beispiel: Ein Professor stellte eine unbekannte Flasche Wein auf den Tisch. Die Leute im Saal wurden gebeten, die letzten zwei Stellen ihrer Sozialversicherungsnummer auf ein Blatt Papier zu schreiben und sich dabei zu überlegen, ob sie bereit wären, diese Zahl in Euro für die Flasche Wein auszugeben. Anschließend wurde die Flasche versteigert. Die Leute mit den höheren Nummern boten fast doppelt so viel wie die Personen mit den tieferen Nummern. Die
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