Kunst des klaren Denkens
Flugblatt A argumentierte: »Lassen Sie sich jährlich auf Brustkrebs untersuchen. Damit kann ein möglicher Krebs frühzeitig entdeckt und entfernt werden.« Flugblatt B: »Wenn Sie sich nicht jährlich auf Brustkrebs untersuchen lassen, riskieren Sie, dass ein möglicher Krebs nicht früh genug entdeckt und entfernt werden kann.« Auf jedem Flugblatt stand eine Telefonnummer für zusätzliche Informationen. Die Auswertung zeigte: Leserinnen des Flugblatts B riefen viel öfter an.
Die Angst, etwas zu verlieren, motiviert Menschen stärker als der Gedanke, etwas von gleichem Wert zu gewinnen. Angenommen, Sie stellen Isolationsmaterial für Immobilien her. Dann sind Ihre Kunden eher bereit, ihr Haus zu isolieren, wenn Sie ihnen sagen, wie viel Geld sie mit mangelnder Isolation verlieren könnten – als wie viel Geld sie mit guter Isolation sparen könnten. Auch wenn der Betrag natürlich genau derselbe ist.
Dasselbe Spiel an der Börse: Investoren haben die Tendenz, Verluste nicht zu realisieren, sondern lieber nochzuzuwarten und zu hoffen, dass sich ihre Aktie wieder erholt. Ein nicht realisierter Verlust ist eben noch kein Verlust. Also verkaufen sie nicht, selbst wenn die Aussicht auf eine Erholung klein und die Wahrscheinlichkeit eines weiteren Kursrückgangs groß ist. Ich habe mal einen Mann kennengelernt, einen Multimillionär, der sich gerade fürchterlich aufregte, weil er einen 100-Euro-Schein verloren hatte. Welche Verschwendung von Emotionen! Ich lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass der Wert seines Portfolios in jeder Sekunde um mindestens 100 Euro schwankte.
Mitarbeiter (falls sie allein verantwortlich sind und nicht in Gruppen entscheiden) sind tendenziell risikoscheu. Aus ihrer Warte macht das Sinn: Warum etwas wagen, das ihnen bestenfalls einen schönen Bonus beschert, im anderen Fall jedoch die Stelle kostet? In fast allen Firmen und fast allen Fällen übersteigt das Karriererisiko den möglichen Gewinn. Wenn Sie sich als Vorgesetzter also über die mangelnde Risikobereitschaft Ihrer Mitarbeiter beklagen, wissen Sie jetzt, warum. Wegen der Verlustaversion .
Wir können es nicht ändern: Böse ist stärker als Gut. Wir reagieren sensibler auf negative Dinge als auf positive. Ein unfreundliches Gesicht fällt uns auf der Straße schneller auf als ein freundliches. Schlechtes Verhalten bleibt uns länger in Erinnerung als gutes. Mit einer Ausnahme natürlich: Wenn es um uns selbst geht.
SOCIAL LOAFING
Warum Teams faul sind
Maximilian Ringelmann, ein französischer Ingenieur, untersuchte 1913 die Leistung von Pferden. Er fand heraus: Die Leistung zweier Zugtiere, die gemeinsam einer Kutsche vorgespannt werden, ist nicht doppelt so hoch wie die Leistung eines einzelnen Pferds. Überrascht von diesem Resultat, dehnte er seine Untersuchung auf Menschen aus. Er ließ mehrere Männer an einem Tau ziehen und maß die Kraft, die jeder einzelne entfaltete. Im Durchschnitt investierten Personen, die zu zweit an einem Tau zogen, nur je 93 % der Kraft eines einzelnen Tauziehers; wenn sie zu dritt zogen, waren es 85 %, bei acht Personen nur noch 49 %.
Außer Psychologen überrascht dieses Ergebnis niemanden. Die Wissenschaft nennt den Effekt Social Loafing (auf Deutsch etwa: soziales Faulenzen). Er tritt auf, wo die Leistung des Einzelnen nicht direkt sichtbar ist, sondern mit der Gruppe verschmilzt. Es gibt Social Loafing bei Ruderern, nicht aber bei Stafettenläufern, weil hier die einzelnen Beiträge offenkundig sind. Social Loafing ist ein rationales Verhalten: Warum die volle Kraft investieren, wenn es auch mit der halben geht, ohne dass es auffällt? Kurzum, Social Loafing ist eine Form von Betrug,der wir uns alle schuldig machen. Meistens nicht mal absichtlich. Der Betrug läuft unbewusst ab – wie bei den Pferden.
Überraschend ist nicht, dass die individuelle Leistung zurückgeht, je mehr Leute an einem Strick ziehen. Überraschend ist, dass sie nicht auf null fällt. Warum nicht totales Faulenzen? Weil die Nullleistung auffallen würde – mit allen Konsequenzen wie Ausschluss aus der Gruppe oder Rufschädigung. Wir haben ein feines Gespür entwickelt, bis zu welchem Grad das Faulenzen unsichtbar bleibt.
Social Loafing kommt nicht nur bei körperlichen Leistungen vor. Auch geistig faulenzen wir, zum Beispiel in Sitzungen. Je größer das Team, desto schwächer unsere individuelle Beteiligung – wobei die Leistung bei einer gewissen Gruppengröße ein Niveau erreicht, ab
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