Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch
aber dieses kleine Mädchen
ist ein ganz eigenes und bezauberndes Wesen.«
»Ein Baby verändert alles, Nadia.« Ich höre, wie Vera sich am anderen Ende der Leitung eine Zigarette anzündet, wie sie ein-
und ausatmet. »Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es war, als du geboren wurdest.«
Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Aber ich hoffe, dass Vera nach dieser Bemerkung nun die eine oder andere Erinnerung
preisgibt. Doch ich höre sie lediglich seufzen. Dann ist alles still.
»Vera, erzähl doch mal …«
»Da gibt es nichts zu erzählen. Du warst ein wunderbares, niedliches Baby. Lass uns jetzt schlafen gehen, es ist schon spät.«
Nein, sie erzählt mir nichts. Aber ich habe es mir längst selbst zusammengereimt.
Es waren einmal ein Kriegskind und ein Friedenskind. Das Kriegskind erblickte das Licht der Welt am Vorabend des größten Konflikts,
den die Erde je erlebt hatte, und zwar in |345| einem Land, das bereits durch Hungersnöte verheert war und sich im Würgegriff eines paranoiden Diktators befand. Das kleine
Mädchen weinte und schrie häufig, denn seine Mutter hatte nicht genug Milch, um es satt zu bekommen. Sein Vater wusste nicht
recht, was er mit ihm reden sollte, und deshalb sagte er nicht viel. Nach einiger Zeit ging er fort. Und dann war auch die
Mutter weg. Das Mädchen blieb bei einer älteren Tante zurück, die ganz vernarrt war in das kleine Ding. Und dieses gewann
die Tante sehr lieb. Aber dann brach der Krieg aus, und in der Industriestadt, wo die Tante lebte, wurde es zu gefährlich.
Deshalb kam die Mutter und holte das kleine Mädchen ab und brachte es zu den Eltern seines Vaters in ein Dorf, wo es in Sicherheit
war. Es sah die Tante nie wieder.
Die Großeltern des Kriegskinds waren ein etwas exzentrisches Paar und hatten sehr strenge Vorstellungen davon, wie Kinder
erzogen werden sollten. Sie hatten auch das Töchterchen ihrer eigenen Tochter zu sich genommen, ein übermütiges Kind, das
Nadeshda hieß und einige Jahre älter war als seine kleine Cousine. Nadeshdas Eltern lebten in Moskau. Nadeshda war nach ihrer
Großmutter genannt worden und deren Ein und Alles. Das Kriegskind war mager und niedergeschlagen und still wie ein Mäuschen.
Es stand Stunde über Stunde am Tor und wartete darauf, dass seine Mutter zurückkäme.
Die Mutter teilte ihre Zeit auf zwischen dem Kriegskind und dessen Vater, der im Süden in einer großen Stadt lebte und nur
selten zu Besuch kommen konnte, weil er eine sehr wichtige Arbeit hatte. Wenn die Mutter zu Besuch kam, gab es häufig Streit
zwischen ihr und Baba Nadia, und wenn sie wieder fort war, erzählte Baba Nadia dem kleinen Mädchen oft schreckliche Geschichten
von Hexen und Trollen, die unfolgsame Kinder fraßen.
|346| Das Kriegskind war nie unfolgsam. Es redete fast überhaupt nicht, doch wenn es ihm mitunter passierte, dass es Milch vergoss
oder ein Ei fallen ließ, wurde es bestraft. Die Strafen waren nicht grausam, aber ungewöhnlich. Zum Beispiel musste es eine
Stunde lang in der Ecke stehen und die Schalen des zerbrochenen Eis in der Hand halten oder einen Zettel, auf dem geschrieben
stand: »Ich habe heute Milch verschüttet.« Dann schnitt Cousine Nadia Grimassen und feixte. Das Kriegskind sagte nichts dazu.
Es stand nur still in der Ecke, hielt die Beweise seiner Ungeschicklichkeit in der Hand und beobachtete, was rundherum vor
sich ging.
Am schlimmsten für das kleine Mädchen war, wenn es ins Hühnerhaus geschickt wurde, um Eier einzusammeln. Denn die Eier wurden
von einem furchteinflößenden Hahn, der blitzende Augen und einen feuerroten Kamm hatte, bewacht. Wenn er sich streckte und
mit den Flügeln schlug und krähte, war er fast so groß wie das kleine Mädchen. Oft schoss er auf es zu und pickte ihm in die
Beine. Kein Wunder, dass das Kriegskind so häufig Eier fallen ließ.
Eines Tages brachten die Kriegsstürme die Mutter des Kriegskinds ins Dorf zurück. Und jetzt blieb sie und fuhr nicht mehr
fort. Abends kuschelten sich Mutter und Kind im Bett aneinander, und dann erzählte die Mutter Geschichten vom Urgroßvater
Otscheretko und von Donner, seinem wundervollen schwarzen Pferd, und von Baba Sonias Hochzeit in der Goldkuppelkathedrale
und von tapferen Kindern, die Hexen und Dämonen besiegten.
Mutter und Baba Nadia stritten zwar noch, aber nicht mehr so oft wie früher, denn Mutter ging jeden Tag zur Arbeit in die
Dorfkolchose,
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