Der Schwarze Mandarin
Prolog
Er hieß Timothy Evans und war ein fröhlicher, freundlicher Mensch, der das Leben liebte. In seinem großen Bekanntenkreis gab es kaum jemanden, der ihm Unhöflichkeit oder Grobheit hätte nachsagen können. Probleme löste er auf seine eigene, elegante Weise, indem er mit einem Lächeln um die etwas weiblichen Lippen sagte: »Das sieht alles nur so verworren aus. Sehen wir einmal hinter die Dinge, denn oft ist die Kehrseite attraktiver als die Vorderseite … wie bei vielen Frauen!« Und dann gelang es ihm immer, eine verblüffende Lösung für das Problem zu finden. Es war einfach unmöglich, ihm böse zu sein oder seinen Charme zu übersehen.
Seine etwas rundliche Figur ließ eine gewisse Gemütlichkeit ahnen. Ein brauner Haarkranz, durchsetzt von einigen grauen Fäden, umzog seinen Kopf. Aber das Auffälligste an ihm waren seine Augen – groß und blau. Der Blick dieser Augen flößte Vertrauen ein; sie beherrschten sein Gesicht. Seine Frau Ethel – eine Schönheit im klassischen Sinne – riet ihm immer wieder, sich die Haare färben zu lassen, aber er antwortete darauf nur: »Ich bin 55 Jahre, und das soll man sehen! Jedes graue Haar ist eine neu gewonnene Erkenntnis.«
Zweimal im Jahr verließ er die Chefetage seiner Maschinenfabrik in Birmingham, um dem englischen Regen- und Nebelwetter zu entfliehen. »Ich bin ein Sonnenfanatiker«, sagte er von sich selbst, »und daß ich in England geboren bin, ist vielleicht das einzige Unglück in meinem Leben. Mein Traum war immer, in der Welt herumzufahren, an den schönsten Küsten im warmen Sand zu liegen, die Geheimnisse fremder Völker zu enträtseln, um am Ende meines Lebens sagen zu können: Ich kenne diesen Planeten, der Erde heißt! Statt dessen hat mir mein Vater eine Maschinenfabrik vererbt mit der Verpflichtung, sie auszubauen, und das tue ich jetzt seit dreißig Jahren.«
Es sollte resigniert klingen … aber immerhin beschäftigte Evans jetzt 3.675 Menschen, bezahlte sie weit über Tarif und hatte für sie eine Wohnsiedlung gebaut. Von seinen Leuten wurde er intern ›Papa Timi‹ genannt, und darauf war er stolz.
Doch zweimal im Jahr erfüllte er sich seinen Traum: eine Art gemäßigter Abenteurer in fernen Ländern zu werden. Aus dem Gentleman im mittelblauen Zweireiher wurde ein Mann, der sich von vielen Konventionen befreite und der sechs Wochen lang ein Leben führte, das seine Frau Ethel nicht mit ihm teilen wollte. Er schlief in den Baumhütten der Papuas, aß gebratene Würmer am Rio Xingu bei den Indianern oder Hammelinnereien bei den Nomaden in der arabischen Wüste und saß im Outback von Australien mit den Aborigines auf der roten Erde und bemalte mit ihnen Baumrinden.
Dieses Jahr im Mai war Evans nach China gekommen. In die Volksrepublik China, die gegenwärtig dabei war, sich zu einer großen Wirtschaftsmacht zu entwickeln. Er hatte diese Entwicklung schon in Peking gesehen, wo Hochhäuser, Supermärkte, Wohnkolonien, Luxushotels, Restaurants, Büropaläste und breite betonierte Straßen mit einer fanatischen Arbeitswut aus dem Boden gestampft wurden, als gelte es, nach Maos Tod und dessen Isolation vom Westen nun in kürzester Zeit die so hochnäsigen Kapitalisten mit dem Schwung des Sozialismus zu beeindrucken und als Wirtschaftspartner zu gewinnen.
Auch Evans mischte bei diesem Aufbau eines neuen China mit, wie so viele Firmen des ehemals verhaßten Westens. Völlig unerwartet – Evans hatte sich nie darum bemüht, Kontakt mit China aufzunehmen – traf ein Schreiben des chinesischen Handelsministeriums bei ihm in Birmingham ein. In sehr höflichem Ton erlaubte man sich die Anfrage, ob eine Verhandlung über den Bau von Maschinen für nahtlos gezogene Stahlröhren möglich sei. Das war eine Spezialität der Firma Evans & Sons, wie die Firma immer noch hieß.
China. Dieses Land stand noch nicht auf Evans' interner Reiseliste. Er kannte Indien, Birma, Thailand und Japan, aber um China hatte er immer einen großen Bogen gemacht. Warum, das konnte er selbst nicht erklären. Und jetzt dieses Angebot … Evans sagte sofort zu. Drei gewichtige Gründe machten ihm seine Zusage leicht: Erstens würde ein gemeinsames Projekt mit den Chinesen auch für seine Firma große finanzielle Vorteile bringen, zweitens konnte er die Reise als Geschäftsreise absetzen, und drittens hatten ihn das geheimnisvolle China und seine über 4.000 Jahre alte Kultur seit seiner Kindheit fasziniert.
Auch bei dieser interessanten Reise hatte es Ethel
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