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Land der Erinnerung

Land der Erinnerung

Titel: Land der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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entdecken, dann vergessen wir alles andere. «Selbst Gott», schrieb Nerval, «kann Tod nicht in Vernichtung wandeln.»
    Es begann gestern nacht, als ich bäuchlings neben Minerva auf dem Boden lag und ihr auf dem Plan von Paris die Gegenden zeigte, in denen ich einmal wohnte. Es war eine große Metro-Karte, und es war schon aufregend, die Namen der Stationen zu wiederholen. Schließlich begann ich mit meinem Zeigefinger rasch von quartier zu quartier zu wandern, und blieb hier und da stehen, wenn ich zu einer Straße kam, deren Namen ich vergessen zu haben glaubte, einer Straße wie der rue du Cotentin zum Beispiel. Die Straße, in der ich zuletzt gewohnt hatte, konnte ich nicht finden; es war eine Sackgasse zwischen der rue de l'Aude und der rue Sainte-Yves. Dagegen fand ich die place Dupleix, die place Lucien-Herr, die rue Mouffetard (welch ein Name!) und den quai de Jemmapes. Dort überquerte ich eine der hölzernen Brücken, die sich über den Kanal spannen, und verlor mich im Straßengewirr an der Gare de l’Est. Als ich mich wieder zurechtfand, war ich in der rue Saint-Maur. Von dort wandte ich mich nach Norden-in Richtung Belleville und Ménilmontant. An der Porte des Lilas erlitt ich ein völliges Trauma.
    Wenig später studierten wir die Departements von Frankreich. Welch herrliche, Erinnerungen weckende Namen! Wie viele Flüsse gibt es da zu überqueren, wie viele Käsesorten zu kosten - und alle möglichen Getränke. Käse, Weine, Vögel, Flüsse, Berge, Wälder, Schluchten, Klüfte, Kaskaden. Man denke an die Île de France . Oder: Roussillon. Zum erstenmal stieß ich auf den Namen Roussillon, als ich noch Korrektor war, und immer verband ich ihn mit rossignol , was zu deutsch Nachtigall heißt. Noch nie hatte ich die Nachtigall gehört, ehe es sich traf, daß ich das verschlafene Dorf Louveciennes besuchte, wo Madame du Barry und Turgenjev einmal gelebt haben. Als ich eines Abends ins «Haus des Inzests» zurückkehrte, wo Anaïs Nin wohnte, schien es mir, als hörte ich den wunderbarsten Gesang von der Welt. Er drang aus den Geißblattranken an der Gartenmauer herüber. Das war der rossignol , zu deutsch die Nachtigall.
    Wie dem auch sei, dort in jenem Garten schloß ich Freundschaft mit einem Hund, dem dritten Hund, den ich näher kennengelernt hatte. Aber ich eile mir selbst voraus. Der Hund kommt später . . . wenn ich im Restaurant sitze und darauf warte, daß Miss Steloff mir eine Broschüre mit dem Titel ‹The Meaning and the Use of Pain› bringt. Wir liegen noch immer auf dem Boden, Minerva und ich, und studieren die Namen der Departements. Minerva fragt, ob ich je Les Baux besucht habe. Sie beschreibt, wie sie eines Spätnachmittags mit dem Rad dorthin geraten sei. «Aber genauso bin auch ich dorthin geraten!» rief ich. «Erinnerst du dich an die ausgetretenen Stufen den Hügel hinauf? Und an jene seltsame, urweltliche Landschaft rings umher, die an Arizona oder New Mexico erinnert?»
    Minerva schien sich an alles zu erinnern. Es war ihre erste und einzige Reise nach Frankreich gewesen, gerade zur Zeit von ‹München›. Damals saß ich vermutlich gerade auf einer Bank in den allees de Tourny in Bordeaux. Dort gab es immer Tauben, die darauf warteten, daß man sie fütterte. Auch Hitler gab es damals, aber der verlangte größere Bissen.
    Von Les Baux war ich nach Tarascon geradelt. Es war Mittag, als ich dort ankam, und die Stadt schien völlig ausgestorben. Ich erinnere mich so lebhaft der breiten Straße und der weiten terrasses im gemessenen Abstand vom Randstein. Sofort begriff ich, warum Daudet sich auf jene wilden Abenteuerfahrten in das Afrika der Seele gemacht hatte. Ein wenig später, als ich mich im Hôtel de la Poste mit dem Küchenchef unterhielt, wurde mir klar, daß Tartarin auch das Waldorf-Astoria in New York besucht hatte. Und noch später fand ich auf der Insel Spetsai ein Ebenbild des Innenhofes des Hôtel de la Poste . . . alles genau gleich, bis hin zu den Vogelkäfigen. Der einzige Unterschied bestand darin, daß der Küchenchef sich in einen byzantinischen Mönch mit einem Harem dunkeläugiger Nonnen verwandelt hatte.
    All das ist nur ein Vorgeschmack der eigentlichen Trance, die mich überkam, als mir die Eisenbahnplakate im französischen Restaurant ins Auge fielen. Inzwischen verschlang ich ein Buch mit dem Titel ‹Le Renégat› von meinem Freund Alfred Perlès. Es war, als tränke ich den Strom der Erinnerungen aus. Ich will hier nicht über das Buch sprechen.

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