Land der Erinnerung
beieinander sind. Einzeln und allein erregen sie Mitleid: es ist für einen Franzosen unziemlich, unnatürlich, unwürdig, in einer Uniform herumzulaufen - es sei denn als Offizier. Dann ist er ein Pfau. Aber er ist auch ein Mann. Gewöhnlich ein sehr intelligenter Mann, sogar wenn er nur General ist.
Eines Abends in Périgueux, während ich an die Lieblichkeit Marylands denke, bemerke ich die leere Fläche, die immer die Kasernen zu umgeben scheint; schwerfällig trottet ein Unteroffizier über sie hin, als ob er nach dem Sudan unterwegs sei, eine kalte Zigarette hängt ihm im Mundwinkel. Er ist vollkommen niedergeschlagen, sein Hosenschlitz ist offen und die Schuhbänder sind lose. Er nimmt Kurs aufs nächste bistrot . Ich habe selbst kein Ziel. Ich bin erfüllt von dem blauen Schmelz des Himmels, mit einem Fuß in Maryland, mit dem anderen im Perigord. Das Elend des armen Wehrdienstlers wirkt auf mich wohltuend; es ist nur einer der längst vertrauten Aspekte des Frankreichs, das ich anbete. Kein Schmutz, kein Gestank, keine Häßlichkeit kann meinen Seelenfrieden stören. Ich werfe einen letzten Blick auf Frankreich, und was immer ich sehe, ist herrlich.
Ungefähr eine Stunde später saß ich draußen vor einem köstlichen Getränk und dachte an den Soldaten und an den Krieg von 1914 . . . dann an Lun éville . Ein zartes deutsches Mädchen erzählt mir mit tiefer, heiserer Stimme von dem Keller, in dem sie in jenen qualvollen Tagen und Nächten gewohnt hat. Es hätte ebensogut die Geschichte einer entkommenen Ratte sein können. Sie enthält nichts Menschliches, nur Grauen und Entbehrung. So oft wurde dieses Mädchen ausgehungert, vergewaltigt und gefoltert, daß nichts mehr von ihm übriggeblieben ist als eine zerbrochene Stimme. Vor ein paar Nächten habe ich ihr in Paris Lebewohl gesagt. Ich begleitete sie noch bis zur Tür des Clubs, in dem sie für eine lesbische Kundschaft singt. Der nächste Krieg ist schon überfällig. Ihre letzten Worte gelten Luneville, den grausigen Nachtbombardements, den Plünderungen, den Mißhandlungen. Sie zittert am ganzen Körper, wie vom Fieber befallen. Drinnen summt jemand «Wien, Wien, nur du allein».
Der Zug rollt ostwärts, nach Luxemburg. Bald werden wir Sedan passieren, diesen verhängnisvollen Ort, dessen Name von Niederlage und Erniedrigung spricht. In der Nähe liegt Charleville, aber wir sind zu betrunken, um uns die Taten des jugendlichen Rimbaud ins Gedächtnis zu rufen. (Was würde ich jetzt darum geben, wenn ich diesen Zug anhalten und aussteigen könnte.) Ein wenig nördlich liegen Maubeuge, Mons, Charleroi, Namur, schreckliche Namen, mit eisernen Ringen in den Nüstern. Krieg. Krieg. Land der Festungen und der Invasionen, zu denen sie herausfordern. Der eiserne Ring zieht sich zusammen. Die Adler schreien.
Auf Reisen ist man immer von der Gefolgschaft des Todes oder seiner Ordonnanz begleitet. Das ruhige Dorf, durch das der Fluß so friedlich zieht, derselbe Ort, den du dir zum Träumen erwählt hast, ist gewöhnlich der Schauplatz eines alten Blutbades. Was zum Träumen anregt, ist das Blut, das reichlicher als Wein vergossen wurde. In Orange, so still und so voll verlorener Größe, pfeift das historische Rezitativ durch die gebleichten Knochen verschlafener Ruinen. Der Are de Triomphe kauert in stummer Beredsamkeit in gleißender, sonnenerfüllter Einsamkeit. Durch einen Torbogen über einem Krug, funkelnd von kaltem Schweiß, bricht die Vergangenheit hervor. Man sieht durch den Bogen in den Midi. Mit tausend wütenden Mäulern fließt die Rhone dahin, um im Golfe du Lion zu verströmen. «Départ dans l'affection et le bruit neuf.»
Irgendwo zwischen Vienne und Orange, irgendwo in einem Dorf ohne Namen, hielten wir am Rande einer kurvenreichen Straße an, bei einer geräumigen, schattigen Terrasse. Eine niedrige Hecke, die dem Bogen der Straße folgte und sie fast vollständig einschloß. Dort gab ich mich, in einem Zustand angenehmer Erschöpfung, dem Gefühl absoluter Desorientiertheit hin. Ich wußte nicht mehr, wo ich war, warum ich gekommen war, wann oder wohin ich gehen würde. Das köstliche Gefühl, ein Fremdling in einer fremden Welt zu sein, erfüllte und berauschte mich. Ohne Erinnerung trieb ich dahin. Die Straße hatte kein Gesicht. Kirchenglocken läuteten, aber wie aus einer anderen Welt. Es war das reine Glück des Losgelöstseins.
Genug gehört, genug gesehen. Gekommen und wieder gegangen. Immer noch hier. Ich flog und glaubte die
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