Land der Erinnerung
Feuerprobe. Fred befand sich zu diesem Zeitpunkt in England und war von den Engländern sehr eingenommen. Ich glaube, er hatte schon Schritte unternommen, um eingebürgert zu werden. Zu meinem Erstaunen erhielt ich eines Tages einen Brief, worin er mir mitteilte, daß er sich als Freiwilliger zur britischen Armee gemeldet habe. Jeder, der ihn von früher kannte, hätte das bei ihm für unmöglich gehalten. Mehr als wir alle hätte er selbst über diesen Gedanken gespottet - vor seiner Bekehrung. « Ein Krieg im Leben ist genug», pflegte er zu sagen. Er pflegte mit seiner Ungeeignetheit für den Soldatenberuf aufzuschneiden. «Ich bin meiner Natur nach ein Feigling», sagte er dann. «Schon das Berühren eines Gewehrs macht mich krank.» Im Verlauf weniger Monate war er in der britischen Armee zu Hause. Er fühlte sich in ihr heimisch wie eine Ente im Wasser. Er fand alles erfreulich, sogar das Essen. Eigenartigerweise erwies sich das, was er am meisten gefürchtet hatte - jemanden kaltblütig und auf Distanz umzubringen -, nie als notwendig. Doch ich erinnere mich, daß er mir schrieb, sogar dazu sei er bereit, und er werde es mit Lust tun, wenn es nötig sei. Das war sehr bezeichnend für ihn. Was er auch immer unternahm, er tat es bereitwillig; er nahm es als Spiel. Es mag schwer fallen, sich einen Menschen vorzustellen, der freudig tötet; doch je mehr man darüber nachdenkt, um so mehr fragt man sich, ob das nicht die beste Art ist. Auch darin zeigte sich seine Unschuld. Er konnte nicht aus Haß töten, aus Gier oder Neid, auch nicht, wenn man es ihm befohlen hätte. Er konnte nur aus reinem Übermut töten. Manchmal habe ich es fast bedauert, daß er nicht wenigstens einen Menschen umgebracht hat. Ich hätte ihm danach gerne die Hand gedrückt und ihm gesagt: «Fred, mein Junge, gute Arbeit! Ich hätte nie geglaubt, daß du das Zeug dazu hast.» Ich kann mir seine Antwort darauf gut vorstellen, kann mir gut ausmalen, wie er seinen Kopf hätte hängen lassen und rot geworden wäre, nicht aus Scham, sondern aus Verlegenheit, und wie er dabei gegrinst und irgendeine unsinnige Bemerkung gestammelt hätte: das gehöre nun mal dazu. Oder er hätte so getan, als prahle er mit seiner Schießkunst.
Aber ich möchte nicht in diesem Ton schließen. Ich möchte auf jenen Regentag zurückblicken, an dem Durrell, Nancy, Fred und ich in dem kleinen Restaurant im 13. Arron-dissement saßen, irgendwo in der Gegend der rue de la Glacière. Wir sind, wie gewöhnlich, guter Dinge. Durrell lacht so schallend über Freds Einfälle, daß der Besitzer sich ärgert. (Oft wurden wir wegen Durrells ansteckender Lache gebeten, das Kino zu verlassen.) Plötzlich, ganz ohne erkennbaren Anlaß, die Gabel in der Luft, platzt Fred heraus: «Sich erinnern ist die Sendung des Menschen auf Erden ...» Es gab eine kurze Pause, als wenn wir einen Schlag ins Gesicht erhalten hätten, bevor das große Gelächter ausbrach. Es war einfach unvorstellbar, daß Fred mit diesem Satz ausgerechnet in diesem Augenblick kommen konnte. Noch unvorstellbarer war, daß wir ihn diesmal mit unserem Lachen nicht ablenken konnten. Er begann den Satz von neuem, nicht einmal, sondern mehrere Male . .. «Sich erinnern ist die Sendung des Menschen auf Erden.» Er kam mit seinem Gedanken nicht weiter; er ging einfach unter in unseren Lachsalven. Jemand fragte ihn, ob er das irgendwo gelesen habe. Nein, er hatte es selbst erfunden. Er sagte das errötend, als sei er sich bewußt, daß er etwas äußerst Bedeutendes hervorgebracht habe. Ob er es nun selbst erdacht hatte oder nicht, wir waren uns alle einig, daß es wunderbar sei, mehr als das, denkwürdig, und daß wir es ihm einmal danken würden, irgendwann, irgendwie. Aber er versuchte uns klarzumachen, daß er keinen Dank dafür wolle. Er wollte, daß wir zuhörten. Wir konnten nicht zuhören. Der Satz hatte uns elektrisiert. Noch ein Wort mehr, und er wäre verdorben gewesen. Besonders ein erklärendes Wort.
Es war Edgar, der mir gewöhnlich mit der Gnade der Erinnerung in den Ohren lag - im Devachan. Ich stritt mit ihm darüber mit Händen und Füßen - das weiß ich noch. Ich pflegte darauf zu bestehen, daß das Gedächtnis abgetötet werden müsse, daß die Spannen zwischen den Geburten nur den Sinn haben könnten, sich des Erinnerungsgepäcks zu entledigen. «Das kann man aber erst, wenn man sich zuvor alles in Erinnerung gerufen hat», argumentierte Edgar. «Du mußt jede kleinste Kleinigkeit deines Lebens immer
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