Land der Erinnerung
Frankreich ohne diese selbsternannten Botschafterinnen des Wohlwollens? Wenn sie mit Ausländern oder sogar mit dem Feind fraternisieren, sind sie deshalb als Abschaum der Gesellschaft anzusehen? Ich hö-
re, daß Frankreich jetzt großes Reinemachen hält, daß es die Prostitutionshäuser aufheben will. So absurd das auch sein mag (in einer Zivilisation wie der unseren), diese ‹Reform›
wird unerwartete Folgen zeitigen. Vielleicht werden diese unglücklichen Opfer der Gesellschaft jetzt die heuchlerischen Angehörigen der Oberschicht infizieren, die bleichen Schwestern der Bourgeoisie mit Würze, Salz und Schärfe erfüllen, mit größerer Freiheitsliebe, einem tieferen Gefühl für Gleichheit.
Es ist so banal, so abgedroschen, wenn man in den Fil-men eine düstere, enge Straße sieht, in der die mitleid-17
erweckende Gestalt einer Prostituierten steht und wie ein Geier im Nebel oder im Sprühregen darauf wartet, sich auf den verlassenen Helden zu stürzen. Nie wird einem die Fortset-zung dieser pathetischen Szene gezeigt; man wird in dem Glauben gelassen, daß der unglückliche Held sofort um seinen Besitz erleichtert, mit einer schrecklichen Krankheit infiziert und auf einem verlausten Bett in den frühen Morgenstunden im Stich gelassen werde. Sie erzählen uns nicht, wie viele verzweifelte Seelen von diesen raubgierigen Schwestern der Barmherzigkeit gerettet werden; sie geben auch keinen Hin-weis darauf, was diese «aussätzigen Geier» dazu geführt hat, einem solchen Beruf nachzugehen. Sie vergleichen diesen direkten, ehrlichen Broterwerb nicht mit den schleimigen, abstumpfenden Taktiken der Frauen aus den oberen Klassen.
Sie verweilen nicht bei dem verzweifelten Mut, den tausend kleinen Tapferkeiten - tagtäglichen Heldentaten -, die die Prostituierten vollbringen müssen, um leben zu können. Sie zeichnen diese Frauen als eine Rasse für sich, als infecte , um das einheimische Wort dafür zu gebrauchen. Wirklich infect ist dagegen das Geld, das von ihnen erpreßt wird, um zum Unterhalt von Kirchen und Kriegsmaschinen zu dienen, schmierige Sümmchen, die, durch Zuhälter und Politiker (die ein und dieselben sind) gesiebt, schließlich den goldenen Misthaufen ergeben, der gebraucht wird, um eine baufällige und wacklige Gesellschaft von Unfähigen zu stützen.
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Ein Blick auf die Karte von Frankreich, vor allem auf die Namen der alten Provinzen, und eine ganze Schar berühmter Frauen wird heraufbeschworen, von denen einige für ihre Hei-ligkeit bekannt sind, andere für ihre leichten Sitten oder ihre Heldenhaftigkeit, ihren Witz, ihren Reiz, ihre hohe Intelligenz, die aber alle berühmt, alle dem französischen Herzen teuer sind. Man braucht nur Namen wie Bourgogne, Provence, Lan-guedoc, Gascogne, Saintonge, Orleanais, Limousin im Geiste vorüberziehen zu lassen, um sich der Rolle der Frauen in der französischen Geschichte, in der französischen Kultur zu erinnern. Man braucht nur an die Namen allbekannter französischer Schriftsteller, der Dichter im besonderen, zu denken, um sich ins Gedächtnis zu rufen, wie unentbehrlich für sie die Frauen waren, die sie liebten: Frauen am Hof, Frauen auf der Bühne, Frauen der Straße, manchmal Frauen aus Stein oder Holz, manchmal auch ein bloßes Phantom oder ein Name, von dem sie gefesselt, gebannt, begeistert waren, inspiriert zu Meisterwerken der Schöpfung. Die Aura, die so manche dieser Namen umgibt, ist ein Teil einer größeren Aura: Dienst. Got-tesdienst, Liebesdienst, Dienst am Schöpferischen, Dienst an der Tat. . . Dienst sogar an der Erinnerung. Keine bedeutende Bewegung wurde je ins Leben gerufen, ohne daß die Gestalt einer aufopfernden, faszinierenden Frau eine Rolle gespielt hätte. Wohin man sich in Frankreich auch wenden mag, hinter allem steht eine Geschichte von weiblicher Inspiration und Führung. Frankreichs Männer bringen auf keinem Gebiet etwas Heldenhaftes, etwas von bleibendem Wert zustande, ohne die Liebe und die Treue ihrer Frauen.
Als ich die berühmten Schlösser der Loire oder die un-geheuren Forts in der Dordogne besuchte, gedachte ich nicht der Krieger, der Fürsten oder der kirchlichen Würdenträger, sondern der Frauen. All diese Festungen, mögen sie nun ge-19
waltig, prunkvoll, elegant, anmutig oder drohend sein, waren nur Schalen, die die Blüte des Geistes bargen und schützten.
Frankreichs Frauen waren das augenfällige Symbol dieses blühenden Geistes; sie wurden nicht nur in Versen, Stein und Musik
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