Die Sünderin
1. Kapitel
Es war ein heißer Tag Anfang Juli, als Cora Bender sich entschloss zu sterben. In der Nacht hatte Gereon mit ihr geschlafen. Er schlief regelmäßig am Freitag- und am Samstagabend mit ihr. Sie schaffte es nicht, ihn abzuweisen, wusste zu gut, wie sehr er das brauchte. Und sie liebte Gereon. Es war mehr als Liebe. Es war Dankbarkeit, bedingungslose Ergebenheit, es war etwas Absolutes.
Gereon hatte ihr ermöglicht zu sein, was alle waren – eine normale junge Frau. Deshalb wollte sie, dass er glücklich und zufrieden war. Früher hatte sie es genossen, wenn er zärtlich wurde, seit einem halben Jahr war das vorbei.
Ausgerechnet am Heiligabend war Gereon auf die Idee verfallen, ein Radio ins Schlafzimmer zu stellen. Es sollte eine besonders schöne Nacht werden. Sie waren an dem Heiligabend seit zweieinhalb Jahren verheiratet und seit achtzehn Monaten Eltern eines Sohnes.
Gereon war siebenundzwanzig, Cora Bender vierundzwanzig Jahre alt. Gereon war knapp eins achtzig groß und schlank, er wirkte sportlich und durchtrainiert, obwohl er keinen Sport betrieb, dazu fehlte ihm die Zeit. Sein Haar war von Geburt an weißblond und nur leicht nachgedunkelt. Sein Gesicht war nicht hübsch und nicht hässlich, es war ein Durchschnittsgesicht, wie Gereon Bender insgesamt ein Durchschnittsmensch war.
Auch an Cora Bender gab es rein äußerlich keine Auffälligkeiten, wenn man von einer Narbe an der Stirn und vernarbten Armbeugen absah. Die Kerbe im Kopf sei die Folge eines Unfalls, die knotig vernarbten Armbeugen entstammten einer bösen Entzündung, hervorgerufen durch Injektionsnadelnbei der Behandlung im Krankenhaus, so hatte sie es Gereon erklärt. Sie hatte auch gesagt, dass sie sich an Einzelheiten nicht erinnere. Letzteres war die Wahrheit. Der Arzt hatte damals gesagt, es komme bei schweren Kopfverletzungen häufig zu Gedächtnisausfällen.
Es gab ein Loch in ihrem Leben. Darin verbarg sich ein schmutziges, dunkles Kapitel, das wusste sie, obwohl die eigene Erinnerung daran fehlte. Vor einigen Jahren war sie in unzähligen Nächten immer wieder hineingefallen. Das letzte Mal lag vier Jahre zurück. Zu der Zeit hatte sie Gereon noch nicht gekannt. Und irgendwie hatte sie es damals geschafft, das Loch zu schließen. Dass sie erneut hineinstürzen könnte, damit hatte sie nicht mehr gerechnet, seit sie mit Gereon verheiratet war. Und dann geschah es – ausgerechnet am Heiligabend.
Zuerst war alles in Ordnung, leise Weihnachtsmusik und Gereons Zärtlichkeit, die allmählich drängender und intensiver wurde. Dann rutschte er langsam an ihr hinunter, da wurde es unangenehm. Und als er mit dem Gesicht zwischen ihre Beine tauchte und sie seine Zunge spüren ließ, wurde die Musik laut. Sie hörte den raschen Wirbel eines Schlagzeugs, eine Bassgitarre und die hohen, schrillen Töne einer Orgel – nur für den Bruchteil einer Sekunde, im nächsten Moment war es schon wieder vorbei. Doch dieser kurze Augenblick reichte.
Etwas in ihr brach zusammen – oder auf, wie ein gut verschlossener Tresor, den jemand mit einem Schweißbrenner bearbeitet. Es war ein irreales Gefühl. Als ob sie nicht mehr im eigenen Bett läge. Sie spürte einen harten Untergrund im Rücken und etwas im Mund, als drücke ein besonders dicker Daumen ihr die Zunge nach unten und verursache einen fürchterlichen Würgreiz.
Das Aufbäumen war nur ein Reflex. Sie schlang die Knie um Gereons Nacken und presste die Oberschenkel zu beidenSeiten an seinen Hals. Es fehlte nicht viel, und sie hätte ihm das Genick gebrochen oder ihn erwürgt. Sie bemerkte es nicht einmal, so weit weg war sie in diesem Moment. Erst als Gereon sie keuchend und röchelnd in die Seite kniff und seine Fingernägel tief in das weiche Fleisch ihrer Taille grub, holte der Schmerz sie zurück.
Gereon japste nach Luft. «Bist du bescheuert? Was fällt dir ein?» Er rieb sich das Genick, hustete, betastete seine Kehle und starrte sie kopfschüttelnd an.
Er verstand ihre Reaktion nicht. Auch sie wusste nicht, was da plötzlich so widerlich und abstoßend gewesen war. So grauenhaft, dass sie für eine Sekunde geglaubt hatte, die Zunge des Todes zu fühlen.
«Ich mag das eben nicht», sagte sie und fragte sich, was sie gehört hatte. Die Musik lief noch, sie war leise und weich. Ein Kinderchor sang: «Stille Nacht, heilige Nacht. Gottes Sohn, oh, wie lacht Lieb’ aus deinem göttlichen Mund.» Was sonst an so einem Abend?
Der unverhoffte Angriff hatte Gereon die Lust
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