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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
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(ja, was war es?) regte ihn gleichzeitig auf. Er betrachtete Erker, die steinernen Laubengänge, die geruhsame Giebeligkeit und die steilen Treppen, die zu Weinstuben führten, in denen vermutlich sechzig Jahre nichts verändert worden war, altdeutsche behäbige Gemütlichkeit, nur die Kellnerinnen, die vor den Weinstuben auf der Straße mit verschränkten Armen schwatzten, waren jünger geworden, und Kornitzer sah sie mit Wohlgefallen an. Und noch etwas sah er und konnte sich keinen Reim darauf machen. Er hatte von den Zerstörungen der Städte in Deutschland gelesen, von Trümmerwüsten, von Feuerstürmen. In dieser Stadt sah er kein einziges zerstörtes Haus, nicht einmal ein Dachziegel schien von einem Dach gefallen zu sein. Er mußte Claire danach fragen, wenn er wieder in Bettnang war.
    Er fand den Weg zur UNRRA, der Hilfsorganisation der Vereinten Nationen, die für ihn zuständig war, leicht. Das Büro war im ersten Stock eines breit gelagerten Hauses mit einem Erker an der Seite der Insel, die dem festen Land zugewandt war, in der Zwanzigerstraße. Auf Stühlen in einem Korridor saßen einige junge Männer, lümmelten sich eher, dachte Kornitzer, sie sprachen untereinander eine weiche melodische Sprache, sahen kurz auf, als er sich zu ihnen setzte, als wollten sie sagen: Was will der denn hier? Es schienen Polen zu sein oder Ukrainer, Zwangsarbeiter oder aus den Konzentrations- und Arbeitslagern Befreite, die hier in der schönen Stadt gestrandet waren und irgendwohin gebracht werden mußten oder wollten, zu übriggebliebenen Menschen, die sie erwarteten, wie Claire ihn erwartet hatte, oder zu einem ganz unwägbar neuen Leben, für das sie votiert hatten in Ermangelung eines anderen, das vernichtet worden war, wie er hierher gebracht werden wollte, in Ermangelung des früheren Berliner Lebens, von dem nur Trümmer übriggeblieben waren. (So hatte Claire es ihm angedeutet.) Die Tür öffnete sich, und eine junge Frau mit einem starken Akzent, den er nicht orten konnte, flüsterte, eher defensiv: Der Nächste bitte. Zwei der Männer erhoben sich. Nur einer, sagte die Frau und reckte zum besseren Verständnis den rechten Daumen in die Höhe. Freund kann Deutsch schlecht, erklärte einer der Versprengten und schob sich mit in das Zimmer. Die Frau ließ die Tür offen, es sah so aus, als wolle sie nicht mit zwei fremden Hilfsbedürftigen in einem geschlossenen Raum sein. Es dauerte eine ganze Weile, bis die beiden das Zimmer mit einem Formular verließen, auch bei den nächsten Bittstellern blieb die Tür offen. Dann gab es eine lange Pause, in der die Tür für eine ganze Weile geschlossen blieb. Zuletzt saß Kornitzer mit einem jungen Mann zusammen, dem ein oberer Schneidezahn fehlte und der eine flinke, nervöse Zunge in die Lücke bohrte. Er sagte – zischelte eher durch die Zahnlücke –, er sei einfach weg-, von den Eltern weggeholt worden, sein Dorf sei umstellt worden, die Kirchenbesucher seien festgenommen worden, alles, was jung war, er machte eine heftige Handbewegung über die Schulter hinweg, es war eine verächtliche Handbewegung, alles weg nach Deutschland. Das sei ganz schwer gewesen für die Eltern. Ohne Sohn, ohne Hilfe auf dem Hof. Und dann versank er in ein finsteres Schweigen, in das Kornitzer nicht durch eine unangemessene Frage eindringen wollte.
    Als Kornitzer dann endlich an der Reihe war, schloß die Frau die Tür hinter ihm, es war wie ein Vertrauensbeweis. Kornitzer sagte, was er sagen mußte, eine Litanei, begleitet vom Rascheln der mitgebrachten Dokumente, er berichtete, daß er gestern als
Displaced Person
hier angekommen sei, daß er Hilfe erwarte bei seiner Rückkehr. Seine Befürchtung, sie mache ihm Vorwürfe, daß er nicht
unverzüglich
die Hilfsstelle aufgesucht habe, erwies sich als unbegründet. Er hatte auch die Befürchtung gehabt, er würde als
Displaced Person
gleich in eine Massenunterkunft eingewiesen. Die Wiederaufnahme durch eine „arische“ Ehefrau war in den Formularen nicht vorgesehen. Vermutlich war der Fall äußerst selten. Die Frau füllte ein Formular aus, das drei Durchschläge hatte, schickte ihn in ein Nachbarzimmer, wo er gegen Vorlage eines der Durchschläge Lebensmittelkarten bekam. Es wurde ihm aufgetragen, die restlichen Blätter wieder in das erste Büro zu bringen, im Flur Platz zu nehmen und das Abschlußgespräch abzuwarten. So saß er wieder im Flur, diesmal mit zwei jungen Frauen, die fast noch Mädchen waren und ihm auf seltsam komische Art

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