Lass den Teufel tanzen
weiter draußen, in Richtung Platzmitte. Die beiden wirken wie auf der Durchreise von einem Flughafen der Erde zum nächsten, als vertrieben sie sich nur die Zeit zwischen einer Landung und dem nächsten Abflug. Aus ihren Blicken errät man, dass sie einander sehr zugetan sind. An ihr ist fast nichts mehr von dem ausgezehrten Mädchen zu erkennen, das sie all die Jahre ihrer Kindheit war. Jetzt ist aus ihr eine junge Frau
mit wunderschönen langen, glatten, kastanienbraunen Haaren geworden, doch ihr Gesicht ist undurchdringlich wie das Gesicht einer Sphinx. Nur manchmal, wenn sie den Kopf schief legt oder wie besessen an ihren Haaren zwirbelt, sieht man noch, dass ihre Seele einmal wie ein geplündertes Schlachtfeld gewesen sein muss. Sie trägt eine weite Tunika mit einem wilden Rosenmuster in psychedelischen Farben, darunter schauen enge Jeansbeine hervor. Als sie in der Bar ankamen, hat sie die große Ledertasche mit Fransen, die sie sich umgehängt hatte, und dann auch, mit großer Behutsamkeit, einen kleinen vergilbten Stoffbeutel abgenommen, den sie sich mit einer Schnur um die Taille gebunden hatte. Die Tasche hat sie auf den Boden neben den Stuhl gestellt, den Beutel jedoch auf den Knien liegen lassen. Der Mann scheint etwas jünger zu sein als sie. Er ist mager, muskulös und hat ein spitzes Gesicht. Die Physiognomie eines Wolfes. Die rabenschwarzen Haare trägt er lang und zu einem dicken Zopf geflochten, der ihm zwischen den Schulterblättern baumelt. In einem Ohr trägt er drei verschiedene Ohrringe. Weil wir uns im Jahr 1973 befinden, halten ihn die meisten gewiss für einen dieser drogenabhängigen Jugendlichen, die überall zwischen London und Amsterdam zu Hause sind. Die junge Sphinx und der junge Wolf scheinen von weit her zu kommen. Viel weiter weg als die Vietnamsoldaten, weiter weg auch als das japanische Touristenpaar. Noch viel mehr als diesen anderen Menschen scheint ihnen das glasige Licht der Piazza, diese reglose Frühlingsluft und all das Leichte um sie herum fremd zu sein. Seit sie angekommen sind, hält der junge Mann die Hand seiner Begleiterin, stützt dabei jedoch die Ellbogen auf den Knien ab
und schaut aus dieser etwas gekrümmten Haltung zu ihr hoch, im Gesicht eine Mischung aus Zuneigung und leichter Besorgnis. Als hätte er ihr gerade eine Frage gestellt und warte noch auf die Antwort. Würde er das, was in seinen Augen steht, laut sagen, dann könnte man diese Worte hören: »Was du getan hast, war richtig. Und wie er das verdient hat, einer wie dein Vater! Und jetzt ist es genug. Du wirst sehen, dass der Albtraum mit der Zeit zu einem ganz normalen Traum verblasst, und dann wird auch der Traum nur noch eine Erinnerung sein, die irgendwann nichts anderes mehr ist als ein kleines Schiffchen, das davonschwimmt, bis die Gesichter derjenigen, die an Bord sitzen, immer kleiner und verschwommener werden und du ihre Namen, die Jahre und die Umstände nicht mehr recht auseinanderhalten kannst. Jedenfalls kann dir jetzt keiner mehr wehtun, weil du wie eine Festung sein wirst, deren Mauern dich schützen. Ich weiß, dir fehlt das Meer von Procida und mir das von Salento, aber jetzt müssen wir eben in diesem Wasser hier schwimmen.«
Die junge Frau mit dem Sphinxgesicht hat klobige Hände und Fingernägel, die so tief bis an die Wurzel abgekaut sind, dass die Nagelhaut entzündet und dick geschwollen ist. Auch jetzt, während sie mit der Linken unablässig mit ihren Haaren spielt, knabbert sie am Daumen der rechten Hand, die sie dem sanften Griff des Wolfsjungen entzogen hat. Hin und wieder berührt sie den vergilbten Beutel auf ihren Knien. Immer wieder überprüft sie die Säume, das Schnürband, den Verschluss. Jetzt gebietet ihr der junge Mann mit einer ebenso zärtlichen wie entschlossenen Geste Einhalt und ergreift ihre beiden Hände. Sie hebt den Blick
über der mappatèlla, und ihre Augen versenken sich in denen des jungen Wolfes. Sie scheint die Risiken und Chancen abzuwägen, so wie jemand, der beim Ertrinken zu schätzen versucht, wie weit das rettende Ufer noch entfernt ist, oder wie ein Klippenspringer in Acapulco, der in der Ferne nach der höchsten und damit der richtigen Welle sucht.
Könnten wir nun in die Gedanken des Sphinxmädchens eindringen und ihre Gestalt annehmen, dann würden wir uns in einen Falken verwandeln. Der Falke fliegt über sumpfiges Marschland, über Wälder, Morast, über Häuser. Sein Flug dauert Millionen von Jahren, immer weiter reicht er zurück.
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