Lautlos
du musst schnell noch zugeben, dass du tatsächlich den geheimen Auftrag hattest, auf den Wahnsinnigen Acht zu geben, weil der Verlag die schlimmsten Befürchtungen an den Tag legte. Ich denke, damit sind alle Karten auf dem Tisch.«
O'Connor schmunzelte.
»Dein Verlag kann stolz auf dich sein. Du zeigst einen Einsatz, den sie ganz sicher nicht erwartet haben.«
Sie robbte ein Stück hoch, beugte sich über O'Connor und küsste ihn. Ihr Haar fiel rechts und links herab, und sie befanden sich im Innern einer Trauerweide.
»Das war nicht vorgesehen«, flüsterte sie.
»Ich weiß«, sagte er leise. »Mich hat auch niemand darauf vorbereitet, dass ich heute Nacht der Vorstellung erliegen könnte, mir Grundsätze anzuschaffen.«
»Du bluffst schon wieder«, murmelte sie.
»Überhaupt nicht. Du bist wunderschön. Das ist bemerkenswert auf einer gemessenen Länge von einem Meter siebenundachtzig.«
»Ich bin nicht schön. Ich bin dünn, groß, blass und eckig.«
Eine Zeit lang sangen nur die Vögel unter dem Fenster des Zimmers.
Als Wagner fast schon eingeschlafen war, sagte O'Connor:
»Nein, Kika. Eine Frau ist immer so schön wie das Kompliment, das man ihr macht. Du musst sie alle auf einmal bekommen haben.«
1999.18. FEBRUAR. KOELN
Dass der Mann seit Tagen nichts Richtiges gegessen hatte, sah man auf den ersten Blick. Dass sein Körper noch viel länger nicht mit Wasser und Seife in Berührung gekommen war, roch man erst, wenn man ihm nahe kam.
Er saß auf dem Beifahrersitz eines funkelnagelneuen Audi und rieb beständig die Hände an seinem alten Mantel. Das rotblonde Haar hing ihm wirr in die Stirn. Sein Gesicht war sonnenverbrannt und aufgedunsen, so dass die Augen zwischen den Lidern lagen wie in Polster gebettet. Die Nase war ins Bläuliche verfärbt, ebenso seine linke Braue, Letztere von einem Schlag, den er sich bei einem Streit mit einem albanischen Zuhälter eingefangen hatte. Obwohl er in jeder Beziehung eine jämmerliche Erscheinung bot, machte der Mann keinen sonderlich unglücklichen Eindruck. Er lachte, wobei er ein gelbes, lückenhaftes Gebiss entblößte, und nickte dem Fahrer vertraulich zu.
Seit einer halben Stunde hatte er zwei BigMacs und eine Riesenportion Fritten im Bauch.
»Nett von dir«, sagte er. Seine Stimme war nicht viel mehr als ein Kratzen. Unter den Punkern und Obdachlosen Kölns hatte sie ihm den Spitznamen »Computerstimme« eingetragen. Wie Computerstimme wirklich hieß, wusste inzwischen kaum noch jemand, und er selbst schien es nicht mehr wissen zu wollen. »Wirklich nett, Jungchen. Hat geschmeckt! Könnte glatt zur Gewohnheit werden, wenn du mich fragst.«
Der jüngere Mann lächelte.
»Kommt drauf an«, sagte er.
»Bah, du wirst zufrieden sein«, krächzte Computerstimme. »Bin schon mal fotografiert worden. Für eine Zeitung. Das war … ach nee, ich weiß nicht mehr, ein Tag ist wie der andere. Egal. Sie machen immer Reportagen über uns, feine Leute lesen so was gern beim Frühstück.« Er kicherte und zupfte am Jackenärmel des Fahrers. »Du bist auch 'n feiner Bursche, wie? Edle Tapete und alles. Verdient man als Fotograf so viel Geld?«
»Halb so wild«, sagte der Fahrer, während der Wagen die Severinsbrücke überquerte. »Es gibt Fotografen wie Sand am Meer. Wenn meine Bilder nicht gut sind, kauft sie mir keiner ab. Und wenn sie gut sind, kann es mir immer noch passieren, dass sie irgendeinem Klugscheißer nicht gefallen. Dann geht's mir dreckig.«
Der Penner knautschte seine Gesichtszüge zusammen, sah den Jüngeren an und schob die Unterlippe vor.
»So dreckig wie mir kann's dir gar nicht gehen.«
»Nein. Da haben Sie wahrscheinlich Recht.«
Der Fahrer hatte ihn nicht gefragt, wie alt er war. Obdachlose mochten zu viel Fragerei nicht. Sie waren von Natur aus misstrauisch und feindselig. Mitteilsam wurden sie erst aus eigenem Antrieb, wenn der Funke übersprang und sie zu dem Schluss gelangten, dass der andere es ehrlich mit ihnen meinte. Es war ihnen nicht zu verdenken. Ihr einziges Kapital waren schlechte Erfahrungen, und die Zinsen waren Zurückhaltung und Vorsicht.
Der Fahrer hatte dem Mann etwas Geld gegeben und sich eine Weile einfach nur mit ihm unterhalten. Belangloses Zeug, Witzchen, Klatsch und Tratsch. Dann hatte er ihn zum Essen eingeladen. Erst beim zweiten BigMac, nachdem Computerstimme aufgetaut war, hatte er ihm den Vorschlag unterbreitet, sich für einen Bildband über die marode Seite Kölns fotografieren zu lassen, ein Dokument
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