Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leb wohl! (German Edition)

Leb wohl! (German Edition)

Titel: Leb wohl! (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
Vom Netzwerk:
abspielte, gelöst wurde. Es war ein Signal. Tausend Bauern stießen ein furchtbares Geschrei aus, ähnlich dem Kampfschrei der Verzweiflung, der die Russen schrecken sollte, als sich zwanzigtausend Nachzügler durch eigene Schuld dem Tode oder der Gefangenschaft ausgeliefert sahen. Bei diesem Schuß und diesem Schrei sprang die Gräfin aus dem Wagen heraus und lief in wahnsinniger Angst über die Schneefläche hin, auf der sie die verbrannten Biwake sah und unten das verhängnisvolle Floß, das man in eine gefrorene Beresina hinabließ. Dort stand der Major Philipp und schwang seinen Säbel gegen die Menge. Frau von Vandières stieß einen Schrei aus, bei dem aller Herzen erstarrten, und sprang vor den erzitternden Obersten hin. Sie sammelte sich und sah dieses seltsame Bild zunächst unklar an. Während eines blitzschnellen Augenblicks huschte jene des Verstandes bare Helle durch ihre Augen, die wir im glänzenden Auge des Vogels bewundern. Dann strich sie sich mit der lebhaften Geste dessen, der nachdenkt, mit der Hand über die Stirn, betrachtete diese lebendige Erinnerung, dieses vergangene Leben, das ihr vorgeführt wurde, wandte den Kopf scharf auf Philipp zu – und sah ihn! Ein grauenhaftes Schweigen herrschte in der Menge. Der Oberst keuchte und wagte nicht zu reden; der Doktor weinte. Stephanies schönes Gesicht gewann ein wenig Farbe; nach und nach nahm sie schließlich wieder den Glanz eines jungen Mädchens an, das von Frische funkelt. Ein schönes Purpurrot übergoß ihr Gesicht. Leben und Glück rückten, belebt von einer noch flackernden Intelligenz, wie ein Brand immer näher. Ein krampfhaftes Zittern lief von den Füßen bis zum Herzen hinauf. Dann fanden diese Erscheinungen, die in einem Augenblick aufblitzten, ein gemeinsames Band: Stephanies Augen sprühten einen himmlischen Strahl, eine lebende Flamme aus. Sie lebte, sie dachte! Sie erschauderte – ob vor Angst? Gott selber löste diese tote Zunge zum zweiten Mal und goß von neuem sein Feuer in diese erloschene Seele. Der menschliche Wille kam mit seinen elektrischen Strömen und belebte den Körper, den er so lange verlassen hatte.
    »Stephanie!« rief der Oberst. »Oh, das ist Philipp!« sagte die arme Gräfin.
    Sie stürzte sich in die zitternden Arme, die ihr der Oberst entgegenstreckte; doch die Umschlingung der beiden Liebenden erschreckte die Zuschauer. Stephanie brach in Tränen aus. Plötzlich versiegten die Tropfen, sie wurde zur Leiche, als hätte der Blitz sie gerührt, und sagte mit schwacher Stimme: »Leb wohl, Philipp ... Ich liebe dich ... Leb wohl!«
    »Oh – sie ist tot!« rief der Oberst, indem er die Arme öffnete. Der alte Arzt fing den leblosen Körper seiner Nichte auf, nahm ihn wie ein junger Mann in die Arme, trug ihn davon und setzte sich mit ihm auf einen Holzhaufen. Er sah die Gräfin an und legte ihr eine schwache und krampfhaft zitternde Hand aufs Herz. Das Herz schlug nicht mehr. »Es ist also wahr?« sagte er, indem er abwechselnd den reglosen Obersten und Stephanies Gesicht ansah, das der Tod mit jener strahlenden Schönheit übergoß, der flüchtigen Aureole, dem Pfand vielleicht einer glänzenden Zukunft ... »Ja, sie ist tot.« »Ah, dieses Lächeln!« rief Philipp. »Sehen Sie doch dieses Lächeln! Ist es möglich?« »Sie ist schon kalt! ...« erwiderte Herr Fanjat.
    Herr von Sucy tat ein paar Schritte, um sich von diesem Schauspiel loszureißen, aber er blieb stehen, pfiff die Melodie, auf die die Wahnsinnige gehört hatte, und ging, als er seine Geliebte nicht herbeieilen sah, wie ein Trunkener mit schwankendem Schritt davon; er pfiff immer noch, aber er sah sich nicht mehr um.
    *
    Der General Philipp von Sucy galt in der Gesellschaft als ein sehr liebenswürdiger und vor allem sehr lustiger Mann. Vor ein paar Tagen machte ihm eine Dame ein Kompliment über seine gute Laune und die Gleichmäßigkeit seines Wesens. »Ach, gnädige Frau,« sagte er, »ich zahle meine Scherze teuer genug, wenn ich abends allein bin.« »Sind Sie denn jemals allein?« »Nein«, erwiderte er lächelnd.
    Wenn ein kundiger Beobachter der Menschennatur in diesem Augenblick Sucys Gesicht hätte sehen können, so hätte ihn zweifellos ein Schauder durchlaufen. »Weshalb verheiraten Sie sich nicht?« fuhr jene Dame fort, die mehrere Töchter in einem Pensionat hatte. »Sie sind reich, Offizier von hohem Rang, aus altem Adel; Sie haben Talente, eine Zukunft, und alles lächelt Ihnen.« »Ja,« erwiderte er, »aber es ist ein

Weitere Kostenlose Bücher