Leb wohl! (German Edition)
Baron von Sucy oft mit Todesängsten rang; bald hatten denn auch seine Augen keine Tränen mehr. Seine oft gebrochene Seele konnte sich nicht an das Schauspiel gewöhnen, das der Wahnsinn der Gräfin darbot; aber er schloß sozusagen mit dieser grausamen Situation einen Vergleich und fand Linderungen in seinem Schmerz. Sein Heroismus kannte keine Grenzen mehr. Er fand den Mut, Stephanie zu zähmen, indem er ihr Leckereien aussuchte; er brachte ihr diese Nahrung mit so viel Sorgfalt, er lernte die bescheidenen Eroberungen, die er im Instinkt seiner Geliebten, diesem letzten Fetzen ihres Intellekts, machen wollte, so gut abzustufen, daß es ihm gelang, sie zahmer zumachen, als sie es je gewesen war. Jeden Morgen ging der Oberst in den Park hinunter; und wenn er die Gräfin lange gesucht hatte und nicht erraten konnte, auf welchem Baum sie sich schaukelte, noch in welchem Winkel sie sich hingekauert hatte, um mit einem Vogel zu spielen, oder auf welchem Dach sie saß, so pfiff er die bekannte Melodie ›Syrien ist unser Ziel‹, an die sich die Erinnerung einer Szene ihrer Liebe knüpfte; auf der Stelle kam sie dann leicht wie ein junges Reh herbeigelaufen. Sie hatte sich so sehr an den Anblick des Obersten gewöhnt, daß er sie nicht mehr erschreckte; bald pflegte sie sich ihm aufs Knie zu setzen, ihn mit ihrem hagern, beweglichen Arm zu umschlingen. In dieser allen Liebenden so teuern Haltung gab Philipp der leckeren Gräfin langsam ein paar Süßigkeiten. Wenn sie sie alle verzehrt hatte, so geschah es oft, daß sie die Taschen ihres Freundes durchsuchte, und zwar mit Gesten, die die mechanische Geschwindigkeit der Bewegungen eines Affen hatten. Sobald sie ganz sicher war, daß er nichts mehr hatte, sah sie Philipp gedankenlos und ohne ihn zu erkennen mit klarem Auge an; sie spielte dann mit ihm, sie versuchte, ihm die Stiefel auszuziehen, weil sie seinen Fuß sehen wollte, sie zerriß ihm die Handschuhe und setzte sich seinen Hut auf. Aber sie duldete es, daß er mit der Hand durch ihr Haar strich, sie erlaubte ihm, sie in die Arme zu nehmen, und seine glühenden Küsse ließ sie ohne Lustempfindung über sich ergehen; schließlich sah sie ihm auch schweigend zu, wenn er Tränen vergoß. Wohl verstand sie die Melodie ›Syrien ist unser Ziel‹; aber es gelang ihm nicht, sie dazu zu bringen, daß sie ihren eigenen Namen Stephanie aussprach. Philipp wurde in seinem furchtbaren Unternehmen aufrecht erhalten durch eine Hoffnung, die ihn nie verließ. Wenn er die Gräfin an einem schönen Herbstmorgen friedlich unter einer vergilbten Pappel auf einer Bank sitzen sah, so legte der arme Liebende sich ihr zu Füßen nieder und sah ihr so lange in die Augen, wie sie es dulden wollte; denn immer hoffte er, das fliehende Licht in ihnen werde nicht ewig verständnislos bleiben. Bisweilen machte er sich Illusionen: er glaubte bemerkt zu haben, daß diese harten und reglosen Blicke von etwas Neuem vibrierten, weich und lebendig wurden, und er rief: »Stephanie, Stephanie, du hörst mich, du siehst mich!« Aber sie lauschte auf den Klang dieser Stimme wie auf ein Geräusch, wie auf den Hauch des Windes, der die Bäume bewegte, wie auf das Brüllen der Kuh, die sie erkletterte; und der Oberst rang die Hände in Verzweiflung, in einer immer neuen Verzweiflung. Die Zeit und seine vergeblichen Versuche steigerten seinen Schmerz nur noch. Eines Abends sah Herr Fanjat aus der Ferne unter einem ruhigen Himmel, mitten im Schweigen und Frieden dieses ländlichen Zufluchtsortes, den Baron damit beschäftigt, eine Pistole zu laden. Der alte Arzt begriff, daß Philipp keine Hoffnung mehr hatte. Er fühlte, wie ihm sein ganzes Blut zum Herzen strömte; und wenn er dem Schwindel widerstand, der sich seiner bemächtigen wollte, so war es, weil er seine Nichte lieber als Wahnsinnige am Leben sehen wollte als tot. Er lief hinzu.
»Was machen Sie?« fragte er. »Die da ist für mich!« erwiderte der Oberst, indem er ihm eine geladene Pistole auf der Bank zeigte; »und diese für sie!« fügte er hinzu, indem er den Pfropfen in die Waffe hineinstieß, die er in der Hand hielt.
Die Gräfin lag am Boden und spielte mit den Kugeln. »So wissen Sie nicht,« erwiderte der Arzt kühl, indem er sein Entsetzen verbarg, »daß sie heut nacht im Schlaf ›Philipp‹ gesagt hat?« »Sie hat meinen Namen genannt!« rief der Baron, indem er die Pistole fallen ließ, die Stephanie sofort aufraffte; er aber riß sie ihr aus der Hand, ergriff auch die, die auf
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