Leben im Käfig (German Edition)
Kapitel 1
Durch die Sprossenfenster fiel gleißendes Sonnenlicht. Staubpartikel tanzten gemächlich in Richtung Boden und streiften das Chaos, das nicht recht zu der kostspieligen Einrichtung des Zimmers passen wollte. Helle Buchenholzmöbel, ein massiver Ledersessel vor dem Schreibtisch, eine aufwendige HiFi-Anlage auf dem Regal über dem Bett, ein Computer, ein verstaubtes Teleskop vor dem linken Fenster.
Von dem taubenblauen Teppichboden war kaum etwas zu erkennen, stapelten sich doch Bücher und Zeitschriften, teilweise zerbrochene CD-Hüllen, DVDs und Computerspiele auf jedem freien Fleck. Ein Wirrwarr zerknitterter Kleidung beherbergte das Bett und erklärte, warum ihr Besitzer auf dem Fußboden vor dem Fenster lag, statt es sich auf der Matratze bequem zu machen.
Träge drehte Andreas den Kopf und betrachtete aus halb geschlossenen Augenlidern seine Umgebung. Sein Blick verharrte für eine Sekunde auf dem gefährlich hohen Stapel Zettel, Hefte und Schulbücher, der jeden Augenblick von seinem gläsernen Schreibtisch zu stürzen drohte – direkt in den übervollen Mülleimer.
Es kümmerte ihn nicht. Es kümmerte ihn ebenso wenig wie die Tatsache, dass eine Staubschicht seinen erst wenige Monate alten Flachbildfernseher bedeckte oder dass ein muffiger Geruch im Raum hing.
Er wusste, dass es an der Zeit war, dem Drängen seiner Eltern nachzugeben. Seit Tagen klopften sie abends an seine Zimmertür und baten, verlangten, bestanden darauf, dass er ihrer Haushälterin Ivana die Möglichkeit gab, gründlich bei ihm sauber zu machen.
Andreas mochte Ivana. Sie war still und herzlich, dachte sich eher ihren Teil als anderen Leuten ihre Meinung aufs Auge zu drücken. Die gebürtige Ukrainerin arbeitete schon so lange für die von Winterfelds, dass sie fast ein Teil der Familie war. Das bedeutete aber nicht, dass er sie in seinem Zimmer haben wollte, erleben wollte, wie sie ihm seine ganz eigene Ordnung durcheinanderbrachte und überhaupt in seinen engen Lebensraum eindrang.
Wenn man als Neunzehnjähriger kaum mehr Bewegungsfreiheit als ein Hamster im Käfig hatte, schätzte man es nicht, wenn andere Leute zu einem in die Einstreu kletterten – so schmutzig und übel riechend sie auch sein mochte.
Frustration ergriff von Andreas Besitz und legte sich als bleiernes Gewicht auf seine Brust. Es prickelte unangenehm in seinen Oberschenkeln und ein milder Schwindel zwang ihn dazu, die Augen zu schließen. Ihm war übel. Das kannte er schon. Ihm wurde immer übel, wenn er über gewisse Dinge nachdachte, sich damit beschäftigte, wer er war und was die Zukunft für ihn bereithielt.
Dabei gab es sicherlich viele Menschen, die liebend gerne mit ihm getauscht hätten. Nichts ahnende Idioten, alle miteinander.
Von außen betrachtet war er ein privilegierter, junger Mann, dem die ganze Welt offen stand. Seine Familie trug den stolzen Namen von Winterfeld, der auf ein über tausend Jahre altes Adelsgeschlecht zurückging. Seine Großvater mütterlicherseits war nie um eine Anekdote aus dem Mittelalter verlegen, in der einer ihrer Vorfahren heldenhaft einem Fürsten, König oder Grafen zur Hilfe eilte.
Andreas vermutete im Stillen, dass es sich bei der sogenannten Historie derer von Winterfeld lediglich um eine Sammlung hübscher, austauschbarer Märchen und Legenden handelte, die sich gut auf der Website der Firma machten, die die Familie seit rund neunzig Jahren erfolgreich ernährte.
Mit romantischen Burganlagen oder großflächigem Landbesitz hatten sie nichts zu schaffen. Von Winterfeld war ein Markenname, der aus der deutschen Wirtschaft nicht wegzudenken war. Ein paar zugegebenermaßen gute Ideen, eine gewisse Gnadenlosigkeit während der harten Jahre des Zweiten Weltkrieg, eiserner Wille sowie ein glückliches Händchen in Sachen Investitionen hatten ein Unternehmen geschaffen, das ein paar Tausend Arbeiter unter Vertrag hatte und gewaltigen Gewinn abwarf. Einen Gewinn, der nur wenigen zugutekam, denn die Familie von Winterfeld an sich war klein.
Sie bestand aus Andreas' Großvater – dem einstigen Firmeninhaber –, seinen Eltern und ihm selbst. Keine Geschwister, keine Tanten und Onkel, keine entfernten Verwandten; dafür ein nicht abreißender Strom Geld.
Kurz gesagt: Wenn er sich nicht in einen verantwortungslosen Verschwender verwandelte, würde er sich in seinem ganzen Leben nie Gedanken über seine Finanzen machen müssen. Er war reich. Oder viel mehr seine Eltern und sein Großvater waren es,
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