Leben im Käfig (German Edition)
gut, ist ja schon gut“, grollte Andreas und schalt sich selbst innerlich einen Idioten. Warum hatte er auch gefragt? „Komm schon rein.“
Das perfekt geschminkte Gesicht seiner Mutter verzog sich für einen Moment, als sie die Tür öffnete und ihren Blick durch das Zimmer huschen ließ. Andreas blinzelte von seiner Position am Fußboden zu ihr hinauf.
Margarete von Winterfeld war eine sehr kleine, zarte Person mit einem modisch kurz geschnittenen Blondschopf und zerbrechlich wirkenden Gliedmaßen. Andreas kam nicht im Mindesten nach ihr. Genau wie sein Vater war er groß und dunkel, mit von Natur aus leicht getönter Haut, die im krassen Gegensatz zum Porzellan-Teint seiner Mutter stand. In ihrem auf den Leib geschneiderten, hellblauen Kostüm wirkte sie trotz ihrer 42 Jahre einmal mehr wie eine Schülerin, die nervös dem ersten Vorstellungsgespräch ihres Lebens entgegen zitterte.
„Schatz ...“, setzte sie betroffen zum Sprechen an und trat vorsichtig um die am Boden liegenden CDs herum auf ihn zu. „Hast du heute schon geduscht? Oder wenigstens die Fenster geöffnet?“
„Weder noch“, grummelte er und drehte den Kopf beiseite, um ihr nicht in die Augen schauen zu müssen. Er mochte es nicht, sie überfordert zu sehen. Bei seinem Vater war es etwas anderes, doch bei seiner Mutter überkam Andreas manchmal das schlechte Gewissen, wenn sie hilflos vor ihm stand und nicht wusste, wie sie mit ihm umgehen sollte.
„Und was war mit dem Unterricht? Dr. Schnieder sagt, du wärst nicht erschienen.“
„Kopfschmerzen.“
„Schon wieder? Schatz, du weißt, dass wir uns wirklich bemühen, es dir leicht zu machen. Und ich weiß, dass es dir schwerfällt, dich mit deinem Lehrer auseinanderzusetzen, aber du musst doch deine Schulausbildung beenden.“
„Was soll ich machen, wenn ich Kopfschmerzen habe?“, brauste Andreas auf. Ungehalten sprang er auf und verschränkte die Arme vor der Brust, während er unbewusst in Richtung Fenster zurückwich. „Ich bin krank. Ich bin seit fast neun Jahren krank und wir beide wissen, dass sich daran nichts mehr ändern wird. Wozu also die ganze Mühe? Glaubst du wirklich, dass es eines Tages vorbei ist und ich ein normales Leben führen kann?“
Grausamkeit mischte sich in seine Stimme, als er etwas leiser hinzufügte: „Tut mir leid, euch enttäuschen zu müssen. Aber ich werde nie so funktionieren, wie ihr euch das vorstellt.“
„Andreas, sei nicht ungerecht“, entgegnete seine Mutter in einem Tonfall, der ahnen ließ, dass sie dieses Gespräch nicht zum ersten Mal führten. „Ich weiß, dass du krank bist.“
„Aber mein Herr Vater nicht. Der glaubt immer noch, dass ich euch etwas vorspiele. Vermutlich denkt er sogar, es macht mir Spaß wie ein Tier im Käfig zu leben.“
Margarete spitzte den Mund, wie sie es oft tat, wenn sie angestrengt nachdachte, bevor sie betont ruhig sagte: „Wir haben dir anfangs unrecht getan. Das weiß ich. Aber mittlerweile ist auch deinem Vater klar, dass du wirklich krank bist. Wir haben es schwarz auf weiß. Wir tun alles, um es dir so leicht wie möglich zu machen. Du hast uns versprochen, dass du dein Abitur machst. Dein Vater und ich wissen, dass es länger dauern wird und dass wir ein paar ungewöhnliche Wege beschreiten müssen, aber ...“
„Ich werde die Prüfungen nicht ablegen können!“, polterte Andreas dazwischen. „Warum macht ihr euch etwas vor? Ja, den Unterricht kann ich hier zu Hause bekommen. Aber für die Abschlussprüfungen muss ich vor einem Gremium meine Klausuren schreiben und das kann ich nicht!“
Er schrie mittlerweile fast, spürte es in sich kochen, hasste diese Diskussion, hasste die Sackgassen, aus denen sein Leben bestand.
„Darüber machen wir uns Gedanken, wenn es so weit ist“, lenkte seine Mutter ein, doch der sanfte Zug um ihren Mund war verschwunden und hatte Resignation Platz gemacht. „Aber bis dahin ... gib dir ein bisschen Mühe, ja? Versuch' dich auf den Unterricht einzulassen. Abbrechen kannst du ihn immer noch, wenn es dir zu schlecht geht. Und bitte lasse Ivana morgen in dein Zimmer zum Aufräumen, ja? Du kannst dich hier doch nicht wohlfühlen.“
Um ein Haar hätte Andreas die Grenzen der guten Erziehung überschritten und seine Mutter nachgeäfft.
Du kannst ja immer noch abbrechen, wenn es dir zu schlecht geht, echote es hinter seiner Stirn. Sie hatte gut reden. Sie wusste ja nicht, wie es sich anfühlte, sich wie eine Schildkröte ohne Panzer vorzukommen,
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