Leben im Käfig (German Edition)
weggelaufen. Zu Andreas. Ich glaube, du hättest unter anderen ...“
„Hör auf! Hör endlich auf!“, brüllte Sascha aufgebracht und sprang mit einem Satz auf. Sein Tee schwappte über den Rand des Bechers und benetzte seine Beine sowie den weinroten Teppich zu seinen Füßen. „Ich will das nicht hören!“
„Was?“, fragte Tanja nach. Das Mitgefühl in ihrer Stimme brachte ihn fast um. „Dass es gut wäre, dir zu überlegen, was du willst oder dass eine Zukunft mit Andreas viele Schattenseiten hat?“
„Ich will nicht so weit denken. Du hörst dich an, als soll ich mich entscheiden, ob ich ihn morgen heirate oder heute verlasse. Du hast vorhin selbst gesagt, dass ich erst achtzehn bin. Fuck, was soll denn das?“
Zum ersten Mal wurde Tanja eine Spur lauter, aufgeregter: „Schrei mich bitte nicht an. Es geht nicht ums Heiraten. Es geht darum, dass Andreas jetzt schon eifersüchtig ist, wenn du dich mit deinen anderen Freunden triffst. Was du viel zu selten getan hast. Weil er niemanden außer dir hat.
Nicht mehr lange und dein Tagesplan wird von Andreas' Launen abhängig sein. Bitte glaub nicht, dass ich ihn nicht mag oder dass ich denke, dass er ein schlechter Kerl ist.
Aber er ist jemand, der ganz viel Liebe und Aufmerksamkeit braucht. Mehr als jemand in deinem Alter geben kann, ohne sich selbst etwas wegzunehmen. Am Ende ist er einfach krank, Sascha. Er wird nie so unbeschwert durchs Leben gehen wie du. Und ich möchte nicht, dass er dir deine Jugend stiehlt, nur weil er selbst keine haben kann.“
Sascha war sprachlos. Aufgebracht. Stumm knallte er seinen Teebecher auf den Couchtisch und ließ Tanja sitzen.
Er flüchtete ins Badezimmer und schloss sich ein.
Ihm war schlecht. Er sollte toben. Sich aufregen. Seine Tante verfluchen und jedes ihrer Worte mit stichhaltigen Argumenten aushebeln. Aber dazu war er nicht fähig und das war die schlimmste Erkenntnis des Tages. Schlimmer als die finstere Zukunft, die Tanja ihm ausgemalt hatte. Schlimmer als der Gedanke, an Andreas gefesselt zu sein, sobald sie einen bestimmten Punkt überschritten. Schlimmer als die Vorstellung, dass Andreas nie gesund werden könnte.
Tanja hatte recht. Mit allem. Er hatte sich geweigert, in die Zukunft zu sehen und Pläne zu schmieden. Er litt darunter, dass er Streit mit Andreas hatte, weil er sich mit Miriam getroffen hatte und heute Abend mit Brain verabredet war.
Er wollte am Wochenende die Sau rauslassen, konnte es aber nicht, ohne permanent im Hinterkopf zu haben, dass Andreas allein war.
Er musste sein Abitur schreiben, aber konnte anders als in die Prüfungen eine Kreuzung zu sehen, die ihn früher oder später von Andreas entfernte. Vielleicht hatte er sich deswegen so viel Zeit gelassen, bevor er sich an die Vorbereitungen machte.
Nein, Sascha wollte hier nicht ewig wohnen. Er wollte in eine WG ziehen; vielleicht auch in ein Studentenheim. Er wollte spontan Partys feiern, er wollte neben dem Studium die Nacht zum Tag machen. Er wollte jung sein und das Gefühl haben, dass ihm die Welt offen stand.
Oh, er wollte all dies mit Andreas. Daran gab es keinen Zweifel. Nur konnte Andreas Sascha nicht folgen. Nicht dorthin, wo er sich in ein oder zwei Jahren sehen wollte.
Andreas blieb ein Gefangener seiner Krankheit und seiner Herkunft. Denn sobald sich sein Gesundheitszustand besserte, würden die von Winterfelds ihre Klauen in ihren Sohn schlagen und ihn zu einem Business-Hengst heranzüchten.
Im Grunde seines Herzens wusste Sascha, dass Andreas alles tun würde, um seine Eltern zufriedenzustellen. Alles. Gnadenlos bis zur Selbstaufgabe. Und dahin konnte Sascha ihm nicht folgen.
Was blieb, war die Gewissheit, verliebt zu sein. Bis über beide Ohren. Mit allen Sinnen. Die Gewissheit, dass sie zusammenpassten. Dass er seinen Andreas begehrte, spüren musste, wollte, brauchte, liebte. Ja, liebte.
So sehr, dass es Sascha Angst machte.
So sehr, dass es ihm körperlich wehtat, sich vorzustellen, ihn zu verlieren oder ihn zu verletzen.
Und doch hatte er es getan. Heute. Silvester und sicher schon tausend Mal dazwischen ohne es zu bemerken.
Eine harmlose Verabredung und Andreas sah ihn an wie ein Kind, dem man das einzige Spielzeug entzogen hatte. Bei genauerer Betrachtung gar nicht so weit von der Realität entfernt, wie Sascha sich eingestehen musste.
Er war Andreas' einziges Spielzeug, sein Stofftier in einer grausamen, eiskalten Welt, die für ihn nur verbale Prügel und Desinteresse bereithielt.
So viel
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