Leben im Käfig (German Edition)
entgegen geworfen hatte. Es gab Dinge, die zu schrecklich waren, um über sie nachzudenken. Und darin, Schlimmes zu verdrängen, war Andreas Meister.
„Sascha?“
Ein dumpfer Schmerz erfasste Andreas' Oberschenkel und ließ sie weich werden, als seine Hand den Halt verlor.
Rückwärts. Zwei winzige Schritte rückwärts und Sascha war außer Reichweite. Löste sich von ihm. Als wäre es ihm unangenehm, von ihm berührt zu werden.
Bitte nicht, wollte Andreas schreien. Er bekam Angst. Keine Panikattacke, nicht das die Welt auslöschende Drängen hinter seiner Stirn, das ihn im Haus festhielt. Nicht das Gefühl, jeden Augenblick seinen letzten Atemzug zu tun. Nur Angst. Rein und unverfälscht. Eine saubere Angst, wenn man es so nennen wollte.
„Ich ... bin hier, um dir zu sagen, dass ...“
Sascha war bleich. Mit dem Rücken stieß er gegen die Tür und sah dabei aus wie ein Mensch, der etwas Unangenehmes zu erledigen hatte und es schnell hinter sich bringen wollte.
Mit verkrampften Schultern sah er Andreas nahezu flehentlich an: „Ich ... ach scheiße, machen wir uns nichts vor. Das hier hat keinen Sinn. Und wir wissen es beide, oder?“ Schmerz – oder Mitgefühl – stand auf seinen Zügen, als er zum Entsetzen seines Freundes fortfuhr: „Wie soll das gehen mit uns? Du hier drinnen und ich da draußen. Wenn wir nie etwas zusammen machen können und wenn du mich nie besuchen kommen kannst. Und sobald ich mich mit anderen Leuten treffe, wirst du eifersüchtig.“
„Aber ich habe mich entschuldigt“, rief Andreas erschrocken dazwischen. Nur sehr langsam sickerte in seinen Kopf, was Sascha ihm sagen wollte. Ihm wurde schon wieder kalt. Arktis-kalt. „Es tut mir leid. Es kommt nicht wieder vor. Wirklich nicht. Und bisher lief es doch gut, oder? Oder nicht?“
Zu seinem Entsetzen schüttelte Sascha traurig den Kopf: „Nein, eigentlich nicht. Wir haben dauernd hier aufeinander gehockt und ja, es war ... ich bereue es nicht. Aber das bin ich nicht. Verstehst du? Du glaubst, dass es reicht, wenn du irgendwann in ferner Zukunft mal wieder auf die Straße gehen kannst. Aber für mich reicht das nicht. Als ich nach Hamburg kam, habe ich mich total auf die Szene gefreut. Auf die Clubs, auf die Partys, auf die großen Kinos, Konzerte, Kneipentouren. Strandfeten. Weißt der Teufel was noch. Aber ich habe davon nichts gesehen. Was ich seitdem gesehen habe, sind ungefähr einhundert Filme und dein Zimmer.“
Andreas klammerte sich verzweifelt an seinem eigenen Hals fest. Es sah aus, als wolle er sich erwürgen. Ihm fehlte der Atem.
Entsprechend klang seine Stimme sehr dünn, als er erwiderte: „Aber ich halte dich doch nicht zurück. Was hält dich davon ab, das alles zu tun?“
„Niemand.“
Ein Geräusch, als hätte Sascha ein Reibeisen verschluckt. Ein nervöses Zucken. Wenn Andreas es nicht besser gewusst hätte, hätte er gedacht, dass sein Freund Angst hatte. Aber vor was? Oder vor wem?
„Aber?“
„Aber ich fühle mich beschissen, wenn ich dich allein lasse“, sagte Sascha rau. „Ich frage mich dann, ob alles in Ordnung ist. Ob du traurig bist. Und vor allen Dingen stehe ich dann auf der Party und möchte meinen Freund dabei haben. Aber du kannst nicht da sein. Du kannst es eben einfach nicht. Fuck, ich bin daheim rausgeflogen, weil ich schwul bin und sein will. Immer und überall. Ich will mit meinem Freund stolz in der Gegend herumlaufen, selbst wenn ich dafür von Idioten was auf die Nase kriege. Ich will frei sein.“
Andreas schwindelte. Er war nicht in der Lage, die Konsequenz hinter Saschas Worten zu erfassen. Auf einer Metaebene verstand er, was ihm gesagt wurde. Er reagierte auch darauf.
Aber sein Gefühlsleben konnte dem, was vor sich ging, nicht folgen. Langsam kroch es hinter den Ereignissen her und ließ ihn jedes Mal schaudern, wenn eine neue Erkenntniswelle über ihn hinwegspülte.
Schwankend wie ein Schachtelhalm im Wind kiekste er bar jeder Kontrolle über seine Stimmbänder: „Und mit mir kannst du nicht frei sein.“
Es war keine Frage. Lediglich eine Feststellung.
Sascha antwortete nicht und sagte damit mehr, als Andreas wissen wollte. Allein. Von jetzt an. Wieder. Nichts, was er nicht kannte, oder? Aber es zerriss ihn. Ein fremdartiges Wesen griff nach seiner Brust und presste sie mit Gewalt zusammen, bis das Blut spritzte und Knochen brachen, in seine Lunge fuhren und ihm das Atmen unmöglich machten.
Er träumte. Er musste träumen! Es konnte nicht anders sein. Er
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