Leben im Käfig (German Edition)
Liebe, wie Andreas brauchte, konnte kein Stofftier geben.
* * *
In dieser Nacht rannte Sascha durch den südamerikanischen Urwald.
Die Hitze macht ihm zu schaffen. Von seiner Haut rann schmutziger Schweiß und brannte in seinen Augen.
Um seine Knöchel wanden sich Würgeschlangen, deren geschmeidige Körper sich endlos dehnen ließen. Ihre Fangzähne staken in seiner Haut, sodass er ihr Reißen bei jedem Schritt spüren konnte.
Ein Faultier hing um seinen Hals. Seine feuchte Nase berührte Sascha an Ohr und Hals, kitzelte ihn, während es sich von ihm tragen ließ. Er wollte es fortbringen, fort von diesem Ort, an den es nicht gehörte.
Wohin das Faultier wollte, wie er es in die höchsten Baumwipfel befördern sollte, wusste er nicht. Nur, dass sein Kreislauf versagte und das Tier in seinem Nacken immer schwerer wurde.
Die Gerüche des Urwaldes waren in ihrer bleiernen Intensität kaum zu ertragen. Blütenkelche reckten sich ihnen entgegen und beschossen sie mit ihren reifen Samen.
Verschlungene Äste voller fremdartiger Früchte drängten sich Sascha in den Weg, lockten ihn mit ihrer saftigen Fülle. Er wollte danach greifen, aber seine Hände waren nicht frei. Sie lagen um die pelzigen Arme des Faultiers. Und das machte ihm Angst. Er konnte nicht aufhören zu rennen, weil die Schlangen an seinen Beinen hochkrochen, sobald er stehen blieb.
Er konnte nicht auf Bäume klettern, denn dazu war sein Begleiter zu schwer. Er konnte nicht essen, weil er seine Hände nicht gebrauchen konnte.
Er würde verhungern. Im Laufen. Während hinter ihm vage vertraute Schatten herankrochen und sich bereit machten, von allen Seiten anzugreifen. Raubtiere, die seine Substanz in sich aufnehmen wollten. Jeder nur einen Bissen, Stück für Stück.
Er durfte nicht aufgeben. In weiter Ferne hörte er das Wasser rauschen, wusste, dass sich dort ein sicherer Hafen befand. Ein Haus, ein Ort, ein weißer Palast im Dickicht des Urwaldes.
Wasserfälle erwarteten ihn dort, ein Bett und Schokoladen-Orangen-Pralinen in Hülle und Fülle.
Angestrengt keuchend sammelte Sascha seine letzten Reserven und stolperte vorwärts.
Die Wurzeln von Dschungelriesen gruben sich durch den nach Verfall riechenden Erdboden an ihn heran und schnappten mit ihren schlanken Auswüchsen nach ihm. Er sprang, hüpfte über sie hinweg. Keuchte.
Fast, bald hatten sie es geschafft.
Über sich hörte er das Röhren von Turbinen, in weiter Ferne das Surren einer Schnellstraße und gelbes Licht, das nicht in den Urwald gehörte.
Endlich tauchten die von Gewächsen ummantelten Mauern seiner Zuflucht vor ihm auf. Verloren wie ein Dornröschenschloss und genauso sicher.
Sascha rang nach Luft. Er wollte sprechen, brachte jedoch kein Wort heraus. Hinter sich hörte er das Rudel die Zähne fletschen. Er konnte ihren Geifer fast im Nacken spüren.
In dem Moment, da er den sorgfältig gepflegten Vorgarten der Villa betrat, sah er an sich hinab. Blut rann über seine Gliedmaßen, sickerte aus den Stellen, an denen die Angreifer ihm ganze Brocken Fleisch aus der Haut gerissen hatten. Schmerzen hatte er nicht, aber er sah seine zerfetzten Adern ausbluten, spürte die Schwäche.
In dem Moment, da er sich über die Treppen nach oben schleppen wollte, raste glühender Schmerz durch seinen Hals. Er konnte es nicht sehen, aber er wusste, dass das Faultier ihn gebissen hatte. In die Kehle.
Sascha erwachte von seinen eigenen Schreien und blieb für den Rest der Nacht als Kugel zusammengerollt unter der Decke liegen. Zitternd. Eine Angst empfindend, wie er sie nie zuvor verspürt hatte.
Er erbebte unter der Gewalt der ersten Panikattacke seines Lebens.
Kapitel 48
Andreas hatte gewusst, dass dieser Augenblick kommen würde. Nur hatte er nicht damit gerechnet, dass es so schnell passieren würde.
Nicht, dass er Sascha nicht sehen wollte, aber er brauchte Zeit, um sich die richtigen Worte zurechtzulegen. Zeit, um über seinen Schatten zu springen und zu tun, was getan werden musste. Doch das Schicksal gewährte ihm keinen Aufschub. Es forderte ihn heraus. Hier und jetzt.
Nein, er hatte nicht damit gerechnet, dass Sascha plötzlich in der Tür zum Fitnessraum stehen würde. Samstag morgens um neun Uhr.
Der einzige Grund, warum Andreas schon wach war, war, dass ihn die Ereignisse vom Vortag dermaßen aufgewühlt hatten, dass der Schlaf ihm wie Wasser aus den Fingern geronnen war.
Stunde um Stunde hatte er sich wach in den Federn gewälzt und sich mit
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