Leben im Käfig (German Edition)
dem Zusammenstoß mit seiner Mutter wusste.
Er wünschte, die Tiefschläge könnten ihm egal sein. Er wünschte, es würde ihm nichts ausmachen, wenn sie ihn behandelte wie Satans Nachwuchs persönlich.
Was hatte er schon groß angestellt? Eine eigene Meinung gehabt. Getrunken, gefeiert, gekifft. Gute Noten abgeliefert hatte er trotzdem. Aber richtig, er war ja schwul. Das war das Sahnehäubchen auf seiner Unzulänglichkeit.
Warum hatte er nur das Gefühl, dass das alles war, was seine Eltern zurzeit im Hinterkopf hatten? War es denn so schwer anzunehmen? Sie hatten ihn doch zu Toleranz und Nächstenliebe erzogen. Gut sein, fair sein, nicht schlecht über andere Leute reden. Nicht komisch gucken, wenn ein Kind schlecht in der Schule war oder putzig aussah. War das auf einmal alles nichtig, nur weil er schwul war? War er nur so lange liebenswert, wie er ihren Vorstellungen gerecht wurde? War er nur noch der schwule Sohn?
Was war mit dem Sohn passiert, auf dessen Noten man stolz war, der Geld zugesteckt bekam, weil er bereitwillig im Garten geholfen hatte? Der beliebt war und jeden zum Lachen bringen konnte? Der auf seine Schwester aufpasste und seine Mutter tröstete, wenn sie Streit mit seinem Vater hatte?
Existierte dieser Sascha nicht mehr für sie? War er nur noch der Sascha, den sie mit der Hand in der Hose eines anderen Jungen erwischt hatten?
Es hätte nicht auf diese Weise passieren dürfen. Es war für ihn nie eine Frage gewesen, dass er sich früher oder später seinen Eltern gegenüber outen würde. Vielleicht hatte er sogar gehofft, dass sie es längst wussten. Er war noch nicht bereit gewesen, es ihnen zu sagen. Nicht jetzt und schon gar nicht so. Er hätte es vorgezogen, diesen Schritt erst zu gehen, wenn er bereits studierte und nicht mehr daheim wohnte.
Schweigen war manchmal eben doch Gold.
Und wo er gerade beim Thema war: Er war froh, dass er Andreas gegenüber nichts erwähnt hatte. Es war nicht so, dass er ihn gerne angelogen hatte. Im Nachhinein wäre es besser gewesen, die Frage abzuschmettern oder die Antwort nicht näher zu spezifizieren. Aber er kam nicht umhin, dankbar zu sein. Für Andreas war er jetzt der ungefährliche, unspektakuläre Freund von nebenan; nicht der schwule Freak, den seine Eltern vor die Tür gesetzt hatten. Angesichts des Theaters, das seine Mutter gestern gemacht hatte, kam Sascha diese Anonymität sehr entgegen.
Andreas.
Sascha trommelte mit den Fingerspitzen auf seinen Knien. Was immer er zurzeit durchmachte, war einen Dreck gegen das, mit dem Andreas sich abfinden musste. Das Geheimnis hinter der Erkrankung lockte Sascha. Es war alles so eigenartig.
Die Symptome, die keine zu sein schienen, die körperliche Fitness gepaart mit der Unfähigkeit, das Haus zu verlassen. Nervosität gegenüber anderen Menschen.
Seltsam. Wie durfte er diese Unruhe verstehen? Galt sie nur für Leute, die Andreas besuchen kamen? Nein, dann könnte er jederzeit draußen sein und am normalen Leben teilhaben. Oder war es so, dass die Nervosität zunahm, umso mehr Leute ihm gegenüberstanden? Wenn ja, war das sicher nicht lustig. So musste ja jeder Einkauf im Supermarkt und jede Bahnfahrt zum Albtraum werden. Wie legte man sich eine so abstruse Krankheit zu?
Sascha seufzte. Warum sich etwas vormachen? Wenn der Körper gesund war und der Betroffene keine Show abzog, war etwas anderes krank.
Andreas war sportlich und pumpte sich in einem privaten Fitness-Raum aus. Laut eigener Aussage lebte er nicht in Quarantäne, weil er ansteckend erkrankt war. An eine Show konnte Sascha nicht glauben. Wer würde sich freiwillig so fürchterlich einschränken?
Damit blieb nur die dritte Alternative übrig. Eine psychische Krankheit. Ein Klaps. Eine Macke. Ein Dachschaden, und zwar ein ganz erheblicher.
Nur ... Andreas wirkte nicht wie der gemeine Psychiatriepatient aus Film und Fernsehen. Weder hämmerte er seinen Kopf gegen die Wand noch redete er Unsinn. Er lallte nicht, kreischte nicht, spielte nicht mit Messern und bekam keine Tobsuchtsanfälle; zumindest bisher nicht. Abgesehen von dem bisschen Zappeln benahm er sich ganz normal, soweit Sascha es beurteilen konnte.
Verdammt. Es ließ ihm keine Ruhe. Zu gerne hätte er Andreas einfach gefragt. Dieses Schweben im leeren Raum schmeckte ihm nicht. Es verunsicherte ihn. Wie sollte er mit Andreas umgehen? Stressten ihn seine Besuche oder genoss er sie? Wollte er allein sein oder freute er sich über Gesellschaft? Wollte er darüber reden oder
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